Die
Rucksäcke trugen sie auf dem Rücken, als sie aus der Bahnhofshalle in
die Unterführung zur Metro schlurften. Dieses Paris wollten sie sich
näher ansehen.
‚Scheiß auf den Eiffelturm und die Kirchen’, dachte Marian in der
U-Bahn, doch später, als sie sich für ein paar Tage in einem billigen
Hotel eingenistet hatten, standen sie dann doch vor und unter diesem für
unsere Zeit wirklich beispielhaften Bauwerk. Hoch, ungemein hoch und
schlank, elegant gebaut und stabil, durchdacht. Kühnes Gebilde einer
vorwärts, aufwärts strebenden Epoche, aber doch hohl, zwecklos. (‚Die
paar Antennen hätten sie auch auf ein Hochhaus schrauben können.’)
In der Metrostation lösten beide ein Zehnerpäckchen Fahrkarten. Sie
suchten sich durch die verschlungenen Linien des U-Bahnnetzes die
richtige heraus und fuhren zuerst zum Hotel. Dort luden sie das Gepäck
ab und machten sich auf in die Stadt. Das Hotel lag in der Nähe des
Militaristen-Monuments Triumphbogen am Place de L’Argentine. Nicht weit
entfernt war eine Metrostation. Auf dem Weg dorthin setzten sie sich in
ein Straßencafé und fühlten sich hinter einem Kaffee gelassen und
sauwohl. Nach der dritten Tasse waren sie bereit für Paris.
Rein in die Metro, mitten hinein ins Zentrum, wo früher die Markthallen
standen, und in der Umgebung all die berühmten Hütten und Paläste. Auf
den Strassen war Trubel, Markttag verschiedentlich. Wie in jeder anderen
Stadt Massen von Fremden mit Photoapparaten, Einheimische als
Geschäftsleute oder Arbeiter, Straßenmusikanten an der Ecke, Folksänger,
Jazzer, südamerikanische Gruppen, dann ein paar Strassen weiter eine
gigantische Raffinerie inmitten der Stadt, das Centre Pompidou, ein
Kulturhaus, Museum, Ausstellungen, ein riesiger Quader mit freiliegenden
Röhren und Leitungen in allen Farben und Formen. Rolltreppen wanden sich
an der Fassade hinauf bis aufs Dach, wo man in einem Restaurant sitzen
und auf das Viertel blicken konnte.
Dahinter ein Platz mit Feuerschluckern, Meditierern, die sich auf
Scherben legten, Pantomimen, Musikern, eine durcheinandergewürfelte
Menschenansammlung, die sich von der völligen Verrücktheit dieses Ortes
mitreißen ließ.
Oben auf dem Dach der Raffinerie gab es noch einen Kaffee. Im
Hintergrund thronte die Kirche Sacre Coeur, die wie eine aus Arabien
herbeigeschaffte Moschee wirkte.
Zurück in die Metro, von dort zu Fuß durch Gassen den Berg zur Kirche
hinauf, am Künstlerviertel Montmartre vorbei, wo an manchen Tagen
Dutzende von Malern ihre mehr oder weniger interessanten Werke anboten.
In der Kirche, überfüllt von Touristen, herbeigeschafft mit Bussen,
hielten sie es nur Minuten aus.
Später Mittagessen im McDonalds am Place Pigalle, ein Nachtclub neben
dem anderen, dazwischen Obsthändler, Cafés und Kinos. (Nachts Orgien
bunter Leuchtreklame und Schläge in Seitengassen.)
Nach den Hamburgern mit Cola (französisches Nationalgericht) fuhren sie
auf gut Glück mit der Metro und kamen am Turm raus. Anschließend rasten
sie bis gegen Abend in der Stadt umher und füllten die Augen mit
Bildern.
Zum Feierabend saßen sie wieder im Café beim Hotel und tranken Bier. Und
als sie bettschwer wurden, gingen sie schlafen.
Die nächsten beiden Tage vergingen wie der erste. Am dritten Tag
bezahlten sie die Rechnung im Hotel.
Der Abfahrtstag begann gemächlich mit Frühstück um zehn Uhr nach einem
langen Schlaf. Die Vollgaszeit in Paris hatte Nerven gekostet, und nun
war der Punkt für einen erneuten Wechsel gekommen. Mittags schafften sie
das Gepäck auf den Nordbahnhof. Dann eine letzte Tour vor der Abfahrt.
Auf irgendeinem Weg kamen sie nachmittags an eine hohe Steinmauer
entlang einer Strasse. Etwas weiter stand ein schmiedeeisernes Tor
offen. Sie gingen hinein. Und fanden sich in einer Art Stadt, eine Stadt
mit Strassen und Wegen, doch die Häuser waren Grabsteine, Denkmäler und
Tempel. Jeder Bewohner besaß ein Haus, an dessen Tür Name, Lebensdaten
und besondere Verdienste angegeben waren.
Am Eingang wartete ein Uniformierter der Heilsarmee und beschrieb den
Besuchern anhand eines Planes die Adressen der Bewohner. Die beiden
erfuhren, dass die Stadt der Friedhof Père Lachaise war, ein
Prominentenabladeplatz. So klangvolle Namen wie Molière, La Fontaine,
allerhand verdiente Generäle und Künstler und Bürger der Stadt Paris,
auch Edith Piaf und ein gewisser Jim Morrison waren hier versammelt.
Marian bedankte sich bei dem Uniformierten und steckte ihm zwei Francs
in den Klingelbeutel. Beeindruckt von der Stille inmitten der Stadt
gingen sie schweigend eine Strasse entlang. Selbst die Grabsteine und
Denkmäler verwitterten, eiserne Scharniere und Gitter verrosteten und
brachen aus den Angeln. Verwelkte Blumen, erstarrte Trauer, getrocknetes
Mitgefühl, gegeben vor Zeiten, von Menschen, die längst ihr eigenes Grab
haben, irgendwo, ein Raub der Tage. Zwischen den Grabhäusern, an die
sich die beiden bald gewöhnt hatten, sah man gelegentlich Tempel und
sogar verkleinerte Nachbauten gotischer Kirchen.
Auf einem Stein ein Pfeil und ‚Jim’, bald wieder und dann weitere.
Massen von Verehrern müssen diesen Jim besucht haben, und sie standen
fragend an seinem letzten Loch in der Totenstadt. Immer wieder Pfeile zu
Jim.
Wenn sie den Weg verloren und aufgeben wollten, sahen sie wieder einen
Pfeil, und plötzlich standen sie davor. Kein erhabenes Grab mit Denkmal
wie ringsum. Zwischen solchen eine Lücke, eine freie Stelle in der Erde.
Ein Loch, ein dreckiges Loch, mit verdorrten Blumen und Scherben von
zerbrochenen Weinflaschen.
Ein bescheidener Stein:
„Jim Douglas Morrison, born 1943 , died 1971“
Ringsum alle Gräber verschmiert, beschrieben mit Namen, Zeichen, Parolen
derer, die hier gewesen waren.
„Show me the way to the next whisky bar!“
„Time to live, time to die, take it easy, baby!“
„Waiting for the sun.“
Inschriften zierten die Steine:
„The holy wankers were here!“
„I want to kill!“ und
„Fuck you!“
Marian setzte sich auf den Boden neben Jims Grab und stützte den Kopf in
die Hände.
„Hier hast du geendet, Jim. Hier faulst du zusammen.“
Er erinnerte sich, dass man Jims Kadaver längst ausgegraben und nach
London oder sonst wo hin verfrachtet hatte, um den Friedhof vor den
anstürmenden Horden zu schützen. Marian schwieg und dachte nichts.
Dort in diesem Loch lag ein Traum begraben, ein Traum, den Jim
verkörpert hatte. Ein Traum von Freiheit und Lebensfreude, von
Überschwang und Rausch.
‚Aus, aus. Ich muss hier weg!’, schoss es ihm durch den Kopf, und
Michael, der an einem der nahen Steine lehnte, hatte nichts dagegen.
Sie verließen den Friedhof entlang einer Reihe von Mahnmalen für die
Opfer des letzten Weltkriegs, grauenhafte Menschenfratzen in gegossenem
Metall, Krüppel, zuckende Leichen, gequältes Fleisch, gemarterte Seelen.
Der Nachmittag verging betreten in gedämpfter Stimmung. Abends verließen
sie Paris und gingen zum Nordbahnhof. Sie verbrachten die Nacht im
Wartesaal und schliefen unruhig. Zuviel war gewesen, um es mit ein paar
Bier zu betäuben. Es musste gären und reifen.
Vor dem Einschlafen schrieb Marian ein Gedicht in seinen Notizblock, den
er immer in seinem Rucksack mit sich trug.
MORRISON HOTEL 2
Hörst du den Schrei der Schmetterlings?
Jetzt?
Hörst du den Schrei
bevor du versinkst
in Besinnungslosigkeit?
Hörst du ihn
auf der Strasse
am Ende der Nacht?
Reiter im Sturm
wenn die Musik vorüber ist
wartest du auf die Sonne
Reiter im Sturm
wildes Kind
Spion im Haus der Liebe
Der Regen fällt sanft auf die Stadt
und auf unsere Köpfe
Die Nacht erhebt sich
Geh zurück tief in die Hirne
geh zurück und höre
Höre den Schrei des Schmetterlings
bevor du gehst
Bei Ihr in der Strasse der Liebe
seltsame Spiele
mit den Mädchen der Insel
Liebe versteckt
in molekularen Strukturen
Reiter im Sturm
dein Vater liegt erschlagen
der Sommer ist fast vorüber
wo wirst du sein
wo werden wir sein
wenn der Sommer aus ist
Am letzten Tag Friedhof Père Lachaise
besuchen wir dich Jim
besuchen dein Grab
zwischen Tausend Toten
finden wir es
aus dem sie dich längst verlegten
selbst da du tot bist
schürst du noch
Unruhe
sieh dir die Grabsteine an
um deine verwahrlose Höhle herum
alle kamen sie
soffen für dich
und weinten vielleicht um dich
Möchtest du nicht wieder kommen
und singen und saufen
und gifteln und Mädchen nachstellen?
Du könntest die erste Zeit
bei uns wohnen
komm spring raus
Oder hast du dich an die Ruhe gewöhnt?
aber nicht wahr
du hast sie doch gesehen
oder doch gehört
wie sie auf deinem Loch rumtrampelten
weil sie dich vermissen und ...
Willst du’s nicht
noch mal versuchen?
Wir tappen um dein leeres Grab
komm doch Mann
du kannst doch nicht
einfach abkratzen
stirbst an Herzversagen
in der Badewanne
Wir stehen um dein Loch
Blumenstöcke hingekotzt
eine zerbrochene Weinflasche
die Schrotthalde eines Lebens
Wenn ich nur wüsste
hast du ihn gehört
am Ende der Nacht
als die Musik vorüber war
den Schrei des Schmetterlings?
Marian blickte auf die letzten Zeilen und steckte dann den Block in die
Seitentasche seines Rucksacks. Er zog den Schlafsack über die Schultern,
legte die Jacke unter den Kopf und drehte sich um.
|