Walkman

1) Walkman

Kalt und müde, es ist schon fast so, wie es eigentlich erst beim Heimweg
sein sollte, nur das dann noch Hunger dazu kommt. Aber es ist eigene
Schuld, außer dem Wecker zwingt einen ja niemand, aufzustehen. Die Sonne
ist dermaßen hell, daß man die Augen fast ganz zuklappen muß, um irgend
etwas zu erkennen, aber es reicht, um den Einstieg zu finden, "Guten
Morgen" zu sagen, die Fahrkarte fallen zu lassen, das Lachen des Fahrers
wahrzunehmen, sie aufzuheben, sich hinzusetzten. Kopfhörer auf, Ruhe.
Man hört noch gar nichts, schließlich muß die Kassette erst fünf
Sekunden Startband hinter sich bringen. Trotzdem Ruhe. Nicht mehr kalt,
nicht mehr hell und weil es die erste Haltestelle ist, noch kein Lärm,
einfach himmlisch. Die Sekunden eines Fernsehers, bevor er eingeschaltet
wird.

Langsam aber sicher nabelt es sich ab, verschwindet im Klangnebel, die
Welt reduziert sich auf die optischen Reize. Irgendwelche Leute steigen
ein und setzen sich irgendwo hin, nachdem sie irgendeinen Kinderwagen
irgendwo hingestellt haben. Es hat gestern nicht geregnet, man hat einen
hervorragenden Blick aus dem Fenster und glücklicher-weise fährt der Bus
nicht schneller als 40, das paßt so gut zu dem Tempo dieses Mor-gens,
wie Eis zum Sommer. Das Gesicht muß aussehen wie eine Endloskassette im
Anrufbeantworter: "Bin zur Zeit leider nicht zu erreichen, bitte
versuchen Sie es später noch einmal.", aber wie jedes Mal arbeitet
wenigstens der Kopf, denken, denken, den-ken. Kommunikation funktioniert
sowieso nicht, sagt die Soziologie der Neunziger, also warum kommunizieren. Aber Gucken, (Musik) hören und Denken funktioniert. Alles nur Biochemie sagen die Neurobiologen der Neunziger, Denken und besonders das jener Art, welches uns erzählt, wir seien wir selbst, ein Jemand, uns unser bewußt, ist ein Trick des Gehirns, weil es Bilder inszeniert, Bilder, die sagen Du bist Du, obwohl das Gehirn nur Gehirn ist und kein Du oder Ich, es ist ein Feedback der Evolution. Oder mit anderen Worten eine philosophische Warteschleife mit kann doch nicht stimmen das hieße ja Maschine zu sein schlechte Laune zu haben weil Stoffe zerfallen und die Reste irgendwo im Kopf andocken und die Endomorphinproduktion bremsen oder so ähnlich das hieße auch man könnte schlechte Laune produzie-ren man müßte nur rauskriegen wo welcher Stoff hingehört man könnte Liebe herstellen oder das Gefühl zu sterben wenn man das richtige Zeug ins Gehirn spritzt und man wür-de das tun weil die Chemie im Kopf das so will weil man am Abend vorher eine Pizza Vier Jahreszeiten gegessen hat deren Inhaltsstoffe nun an ihrem Ziel angelangt sind und aber das ist im Moment auch egal, wie ein besoffener Mensch, der um 11 Uhr morgens in der Scheißkälte auf der Bank hockt. Er ist mir egal, wenn ich Musik höre, ich bin ihm egal, wenn die Soziologen recht haben, nein, ich bin ihm a priori egal, er kennt mich ja nicht, nichts würde sich ändern, wenn er es täte. Krass, da in der Kälte zu hocken und Fusel zu frühstücken. Wie lange habe ich den Typen schon angestarrt?

Die ganze Zeit während des Exkurses in die moderne Wissenschaft? Er merkt nichts, starrt nur die (seine?) Frau gegenüber an, die aber dem kleinen Mädchen irgendwas erzählt, auch wenn das kleine Mädchen die ganze Zeit dem Busfahrer zuguckt, der in Mitleid erre-gender Weise von dieser alten
Frau voll gequatscht wird und so weiter und so weiter und so weiter welche Dinge müssen einem im Leben wohl passieren daß man sich zum Schluß im Bus wiederfindet und Konversation mit dem Fahrer das Highlight des Tages ist, man danach aussteigt und sich sagt, hey das war´s für heute, war´n guter Tag. Alles in die-sem Bus ist verzahnt und all das kommt nicht an, es prallt ab am Rhythmus an Gitarren-spuren, an Synthesizern, "...baut eine Mauer um mich herum...", "eine eigene Geschichte aus reiner Gegenwart..."
Wie ein einziger langer Videoclip, ohne nervige Moderatoren, ohne Werbung, ohne Ti-tel, ein hervorragendes One-Shot-Video.

Die Frau ist ausgestiegen und schleicht in die Apotheke, nein, zu dem
Arzt, mein Gott, da ist sie nicht die einzige, da sind ja noch drei andere und alle haben ihr Highlight des Tages hinter sich und schleichen zu diesem Arzt, langsam, Schrittchen für Schrittchen, alles aus dem Weg schieben und ächzen, das Ziel fest im Blick, immer nur eine halbe Stufe auf einmal im Wartezimmer dem Tag einen Sinn geben bloß weg von dieser Al-tenparade irgendwie ist das noch zu nah, zu real, zu scheiße.

Ich gleite weiter durch die Stadt, der Sound treibt diesen Bus an und
mich dazu. Die Gedanken, "...schätze ich am meisten die interessanten..." fliegen durch die Gegend, verlassen den Bus, durch die Straßen, wie eine Flipperkugel. Keiner hier merkt, daß in ihrer Mitte ein Loch klafft, eine Lücke in ihrer Realität, die nicht mehr meine ist. Ihre Rea-lität verlassen funktioniert, ohne Spuren zu hinterlassen, ich bleibe ja da auf meinem Platz sitzen, man kann mich angucken und ich nehme meinen Platz in ihrer Wahrnehmung ein, aber umgekehrt bricht es zusammen. Keiner kann sich vorstellen, wie er oder sie bei mir ankommt.

Anders, jedenfalls nicht so, wie sie sich selbst im Spiegel sehen, anders, nur Hülle, gefüllt mit smarter Drum´n´Bass Musik, die aus allen Poren tropft, ein Bild mit aus Haut und Haaren quellenden Riffs und Beats. Eine Sonnenbrille kappt die letzte Verbindung zu dem Pfuhl aus Lärm, Fleisch, Gestank und Welt. Dunkle Gläser und Kopfhörer garantieren totale Unerreichbarkeit, außer einem Symbol meiner selbst bin für den Moment verschwunden und kann ungestört vor mich hin existieren, "the trick is to keep breathing".

Und dann hört es auf. Weil so ein Arschloch sich neben mich setzt, obwohl er eigentlich zwei Sitze bräuchte. Rempelt rum, wirbelt mit seinen Taschen um sich, ich kriege mas-senhaft Jacke, Schal, Rucksack ins Gesicht und am Ende sitzt das Arschloch halb auf mir drauf. Es hat aufgehört, weil mir irgendwo ein Jemand den Alltag auf einem Silbertablett serviert hat, eigentlich eher ins Gesicht geschlagen hat, weil das Arschloch meinen Körper dazu gebracht hat, Adrenalin auszustoßen, ich könnte kotzen.
Aus dem Fenster gucken, lauter drehen und den Ärger einschläfern. Kein
Sinn, das Gerede geht los. Jeden Morgen können zwei GAU´s passieren,
die Busfahren sinnlos machen: wenn ein hyperaktives Arschloch neben/auf
dir sitzt und wenn zwei Jemands in deiner Nähe, entgegen jeder nordeuropäischen Tradition, in Bussen, Fahrstühlen etc. die Schnauze zu
halten, anfangen zu reden. Was nützt ein Kopfhörer, wenn andauernd
Gequassel die Ohren foltert? "Words are very unnecessary" All die Wörter
und Sätze sind Klebstoff, halten alles fest, nichts kann weggleiten, und
es gibt nur einen Ausweg: sie steigen aus. Wenn sie das nicht tun, ist
es vorbei, ist mein Highlight des Tages vor-bei. Weil ich bis zum Ende
fahren muß, habe ich aber meistens Glück und das ganze Spiel kann
irgendwann von vorne anfangen, als wäre nichts geschehen, wie am ersten
Tag.

Und dort, am Ende, wenn auch ich unweigerlich am Tag teilnehmen muß, ich
aussteige und meinen täglich Weg mache, brechen langsam die Wogen über
mir zusammen. Es hat nichts Bedrohliches, wie alles, was einem jeden Tag
wieder passiert, mit der Zeit seine Bedrohung verliert, ohne dadurch in
Wirklichkeit harmloser zu werden. Ich habe mich längst damit abgefunden,
aber trotzdem bleibt immer noch ein etwas bewegendes Gefühl übrig, wenn
du die Musik stoppst und der Tag mit all seiner ihm innewohnenden
Realität in dein Gehirn rast, welches nicht mehr bis in den letzten Winkel ausgefüllt ist mit Takten, Songs und Tönen. Der richtige Tag, das echte Gefühl hört auf einen Knopf-druck und wenn es soweit ist, bleiben eine, vielleicht zwei Sekunden, in denen wirklich alles steht. Natürlich nicht in der Realität, aber in meiner Wahrnehmung von ihr, die die einzige Realität ist, die mich interessiert. Kein Ton, kein Bild, der Stecker ist raus. Ich bin nicht mehr müde, aber es ist immer noch kalt. Und wie fließendes Wasser erreicht der Alltag jeden Punkt, jeden Winkel und jede hinterletzte Empfindung, nichts bleibt im alten Zustand, "Life´s a gas".


2) Mein Weg vorbei an Unwichtigem

Ich weiß, ich muß den Flur hinunter, um rechtzeitig das Seminar zu
erreichen. All die an-deren wissen und müssen das gleiche, aber niemand
von ihnen weiß, daß ich es muß, wie auch ich es nicht von ihnen weiß.
Dermaßen viele gleiche Gedanken werden von verschiedenen Menschen in ein und dieselbe Tat umgesetzt, aber es interessiert nie-manden wirklich,
auch nicht mich, aber seltsam ist es schon. Kaffee und Zigarette halten
mich auf, nein, eigentlich halten sie mich nicht auf, denn sie sind jeden Morgen da, gehören also zum Weg wie die vielen Schritte. Hinsetzten und noch einmal "Im Bett liegen" spielen, rauchen, trinken, draußen schien die Sonne, das hebt die Stimmung, kann aber nicht davon ablenken, daß man hier einen Mord begehen könnte, ohne das sich jemand umdrehen würde. Hoffentlich hat nicht gerade jemand diese Idee, ich für meinen Teil würde es nicht merken, nicht merken wollen, schließlich sitze ich hier, um zu rauchen und zu trinken und nicht, um mir irgendein wildfremdes Verbrechen anzusehen. Aber wie gesagt, soweit ich das beurteilen kann, schien draußen die Sonne, Grund genug für Ausgeglichenheit, wenigstens fünf Zentimeter lang. Schwindel schleicht sich ins Gehirn, kein Wunder bei dem Tempo, das hier herrscht, als wäre man ein wenig weggerückt von seiner Person, gut, aber das kennt ja jeder, weil jeder der Beste ist und jeder immer alle Bücher gelesen und alle Erfahrungen gemacht hat, bevor es andere getan haben. Scheiße, hat es vielleicht eben doch geregnet?

Und los geht's, Kaffee alle, Zigarette in den Dreck geworfen und
aufgestanden. Vierter Stock per Fahrstuhl bedeutet wieder Begegnung mit
zentraleuropäischer Lebenskultur, sprich kein Ton, kein Lebenszeichen
während der Fahrt. Ich weiß nicht wieso, würde aber lügen wenn ich
sagte: gut so, oder nicht. Ich bin in keinster Weise schon soweit, eine
eigene Meinung zu haben, denn ich habe im Moment noch nicht genug
Konzentra-tionsfähigkeit, um damit umgehen zu können, daß sich niemand
für sie interessieren würde. Zwanzig Meter lang nach oben herrscht
Stille und Spannung, man wartet, ob sich jemand findet, der den Zustand
ändert und das Gesetz bricht, wenn auch vergebens.

Ich überlege kurz und mir kommt der Gedanke, man könnte, falls jemand
sich Mühe machen würde, mich im Grunde komplett falsch interpretieren.
Entweder sehe ich aus wie alle hier in diesem Gebäude und bin somit keine Haftnotiz im Gehirn anderer Menschen. Ich wäre eben nur genauso da wie der Rest und hätte unter all den anderen ein recht große Chance auf Ruhe, die wahrscheinlich länger anhalten würde, als mir lieb wäre. Oder aber ich sehe aus wie ein fleischgewordenes Aduleszenzproblem, einer dieser stylish people, der bestimmt Derrida oder Kierkegaard ließt, aber alles vorher schon gewußt hat und schon Photek und Tocotronic gehört hat, bevor es die überhaupt gab, allem voran ein Schubkarre voll schwarzem Schlamm. Aber es besteht schließlich die Chance, daß der Rest genau wie ich kaum in der Lage ist, seine Aufmerksamkeit auf andere richten. Und mittlerweile bin zu der Überzeugung gelangt, daß im letzten Satz irgendwo ein "leider" fehlt, so kann es gehen, wenn man einmal nicht aufpaßt und die crispy youth-attitude schludern läßt.

Ich gehe durch den Flur, den unzählige Füße stumpf gelaufen haben, zu
dessen Zustand auch ich meinen kleinen Anteil beigetragen habe und der
bis zu seinem Ende scheinbar nicht enden will. Eine dieser Türen ist
diejenige, die für mich und den Moment das Ziel ist und die, wenn ich
durchgegangen bin, weiter machen wird, wie bisher.

Wie dem auch sei, ich weiß nicht, wie ich eingeordnet werde, aber das
ist wohl auch die falsche Frage, denn wichtiger wäre zu wissen, ob man
überhaupt ein Rolle spielt.

Ich sitze mittlerweile und nun geht alles wirklich, unwiderruflich los, keine Ausreden, kei-ne Flucht möglich. Die Wörter von vorne müssen durch den Kopf und die Hand ihren Weg aufs Papier finden, sonst wäre alles bisher geschilderte umsonst. Das hat seinen Preis, es bleiben keine Ressourcen für anderes, nachdenken etwa. Als letztes, bevor ich damit beginne, merke ich noch, daß ich nicht sagen kann, ob das ein Preis ist, den ich zahlen muß oder einer, den ich soeben gewonnen habe.


3) Wirkung von außen

Verschoben und irgendwie falschrum, wie ein reversegate, kamen die aus
den Mün-dern gefeuerten Wörter an und erst nach einigen Minuten der
Eingewöhnung bildeten sie im Kopf Sätze, deren Zusammenhang nun
ebenfalls endlich klar und deutlich wird. Draußen beleuchtete ein farblich unklassifizierbarer Himmel die Szene und unterstrich wirkungsvoll ihre Bedeutung. Ließe man sich von einer falschen oder genauer gesagt vorschnellen Interpretationslust treiben, könnte man zu dem Ergebnis kommen, hier triebe selbstmitleidiger Egozentrismus ein falsches Spiel. Aber eigentlich war es ein Tag, der nur dadurch besticht, daß er nicht herausragt, sondern genau in der Mitte zwischen Erträglichkeit und Unheil liegt, mehr nicht.

In Situationen wie dieser entsteht sehr schnell der Eindruck, es handle sich um beson-dere Tage, die in irgendeiner Form von der Norm abweichen, sei es durch äußere Um-stände oder aber durch subjektive Wahrnehmung, die irgendwie die Gegenwart über das bisher Erlebte stellt. Aber in diesem Fall ist das ein Trugschluß, dieser Tag war nicht anders, besser oder schlechter als jeder x-beliebige, vielleicht war es gerade dieses Mittelmaß, was ihn im Gedächtnis haften ließ. Wie er dort saß, zwischen all den anderen Menschen, die mit Sicherheit alle ihre eigene Geschichte dieses Tages hätte erzählen können, zwischen all den anderen Highlights und Tiefen, und wie er vor allem dort so gar nicht auffiel, sondern unterging im allgemei-nen Zustand, das konnte einem, von außen betrachtet durchaus die Tränen ins Gesicht steigen
lassen. All die vielen tiefgründigen Gedanken und Metaphern, die schönen
geistigen Ausflüge und doch konnten sie ihn nicht erhöhen über die anderen, nicht seinen Grad an Wahrheit steigern gegenüber dem Rest, er saß ganz einfach da rum und hätte er sich von außen sehen können, er hätte sicherlich tiefschürfende Maßnahmen ergriffen, um diesen Zustand auf die eine oder andere Art und Weise zu beenden, vorausgesetzt, er hätte je den Mut dazu besessen.

Nun konnte er sich aber nicht von außen sehen, was ihn davor bewahrte,
sich diesen über die Maße normalen Tag letztlich selbst zu verderben,
alles blieb in seinen Fugen und wurde nicht berührt, man könnte sagen,
in der Ordnung.

Diejenigen, die ihn sehen konnten, denen fiel er nicht auf, zumindest in
keiner erwähnenswerter Weise, manchmal, wenn deren Blick durch den Raum glitt, ging er an ihm vorüber, wurde weder gehalten, noch abgestoßen, er war nur die Straße, auf der man glitt. Schlimmer noch, wer konnte ihn
überhaupt sehen, die wenigen Gestalten, die sich mit ihm in dem Raum
befanden, die schon, aber niemand sonst. Außerhalb dieser Mauern war er
nicht existent, allenfalls als Erinnerung in den Köpfen einiger anderer
Menschen, aber das war nicht er, sondern ein verzerrtes Abziehbild
seiner selbst. Seit der Entstehung der Erinnerungen hatte er, da er nicht
anders konnte, weitergelebt, sich ver-ändert, Erinnerungen blieben mehrere Programmversionen hinter der Aktualität zurück, hinter dem Raum war die Welt, aber erschütternd wenig Manifestes von ihm. Hätte er all das gesehen, er hätte im Bewußtsein der Unveränderbarkeit dieses Zustandes wohl schnellstmöglich das Weite gesucht, so weit wie möglich. Manchmal zwischen Neonröhrengeflacker und vollen Notizzetteln überkamen ihn scheinbar Ahnungen von der Realität oder besser gesagt von seinem Platz in der Realität und nach kurzen Momenten des Zögerns und der Ratlosigkeit verhielt er sich so, wie es die Normalität von ihm verlangte, er suchte mit erstaunlicher Behendigkeit im Kopf den Undo-Schalter und kehrte dorthin zurück, von wo er gekommen war, zu mittlerweile neuen, vor allem aber leeren Notizzetteln. Es blieb noch etwa eine Stunde, in der die Gedanken weiter ausgeschaltet blieben, zumindest diejenigen, die sich ausschließlich mit der eigenen Individualität und ihrer Rolle in der Umwelt beschäftigten, und sollte nach dieser Zeit sich weitere Ablenkung einstellen, durch Freunde,
Bekannte, oder Essen, dann um so besser. Dessen war er sich durchaus
bewußt, in diese Richtung schmie-dete er unterbewußt längst Pläne, obwohl er eigentlich kein besonderer Verehrer der Small-Talk-Kultur war, weil dabei Kommunikation nicht zwecks Informationsaustausch, sondern der Ablenkung halber veranstaltet wurde. Aber genau das macht sie auch und besonders für ihn lebensnotwendig, nicht nur das Gegenüber darf versuchen, zwischen all den Sätzen und Sprachbarrieren Identität zu finden, sondern gerade man selbst muß nicht eben wenige Ressourcen für deren Errichtung verwenden und sich im möglichst hintersten Winkel zusammenkauern, in der manchmal freudigen Erwartung, vielleicht entdeckt zu werden. Weiterführendes, reflexives Gedankengut bleibt als positiver Nebeneffekt dieser Praxis dabei mangels Lebensraum auf der Strecke.

Die Stunde verging und nachdem er während ihrer Dauer durch ruhige
Gewässer treiben konnte, driftete er nun wieder durch heimtückisches
Wetter und auf zerklüftete Klippen zu, er mußte wieder versuchen, irgendwie heile durch zu kommen, ohne elementaren Schiffbruch zu erleiden, ohne die zarte Schutzhülle zu zerkratzen, die sich mittlerweile um ihn und sein Erleben gelegt hatte.



4) Wider den Sturm

Wieder draußen und wieder unten, wieder rauchen und wieder Kaffee. Wie
schon an all den Tagen vorher sind sie ständig bei mir, begleiten mich als notwendige Alliteration durch den Tag und ein weiters Mal denke ich
- ohne Fatalist zu sein - : besser als nie-mand. Neben mir unterhalten sich Menschen über Loops in der kognitiven Erkenntnis und über die Gefahr von politisch extremen Strömungen in der heutigen Zeit. Von der Gefahr neu aufkeimenden Haß auf das Unbekannte und von der unzureichenden Rolle eines zu flach ausgeprägten Geschichtsbewußtseins, sie tun es und werden sie doch mit offenen Armen empfangen, wenn sie wieder marschieren. Vielleicht nicht als erste, aber dafür mit um so lauterem Geschrei und weiter ausgestreckten Armen. Ich weiß es, es kotzt mich an, es zu wissen. Ihr Geschichtsbild, ihre Loops, ihre Delays berühren mich nicht, aber sie sind mein Turm, auf dem ich stehe, von dem ich blicke, bis wieder der Schwindel nach mir greift.

Mit aufkeimendem Ärger darüber, daß ich es nicht mal mehr schaffe,
einfach fünf Minuten rum zu sitzen ohne meine Kraft zu verlieren, stehe
ich auf. Irgendwo muß ich einen Platz finden, an dem Ruhe herrscht für
mich, wo es keine Dinge gibt, die mich ans Denken erinnern, die Denken
auslösen, aber mit Hunger im Bauch nützt auch der Walkman nichts. Ich
brauche irgendeine Beschäftigung, Essen beispielsweise, sonst wird mein
Gehirn weiter Ideen ausspucken, was es mit Vorliebe tut, wenn es nicht
anderweitig mit niederen Verhaltensfolgen beschäftigt ist. Nicht das diese Ideen wertlos oder auserle-sen wären, sie sind schlichtweg eher normal zu nennen, nur habe ich die Kraft verloren, mich ihnen zu stellen, sie zu verwerten, mit ihnen zu leben oder nicht, ich muß dringend was essen, mein Gehirn hat Hunger und es wird beginnen zu kotzen, wenn es nichts bekommt. Und dann gnade mir der, der die Fäden in der Hand hält.

Ich gehe, möglichst ohne zu schwanken, los in Richtung Mensa, versuche
zu erspähen, was uns heute vorgesetzt wird, ich kann es nicht erkennen, viel zu viele Leute, Menschen und andere versperren den Weg, was nichts
besonderes ist, weil es immer so ist, aber eben trotzdem nicht weniger
nervtötend. "Laßt mich vorbei!" sollte ich schreien. "Bitte, ich muß da
durch, ich habe keine Zeit mehr, die Gedanken kommen" vielleicht noch
hin-zufügen, aber natürlich bleibt alles still, als hätte ich auf Klebstoff gebissen. Mittlerweile dreht sich alles recht schnell um mich herum, als wäre ich in einer Zentrifuge. Doch an-statt mich darüber zu freuen, endlich einmal im Mittelpunkt zu stehen, breche ich die ganze Unternehmung ab, es hat keinen Sinn, es ist zu voll, ich werde es nicht schaffen, nicht rechtzeitig, ich merke schon jetzt, wie wieder die Gedanken nach oben sprudeln, alles beiseite spülen und dabei zerquetschen, in Nichts auflösen. Ob ich nun geschrien hätte oder nicht, sie hätten mich ja doch nicht gesehen, vielleicht blöd angesehen, aber verstanden hätten sie es nicht, alle miteinander nicht, weil sie es gar nicht wollen. Schließlich stehen sie alle da, weil sie Essen haben wollen, wie Schlachtvieh in einer Reihe stehen sie da und wollen Essen
haben. Sie wollen keinen bei sich haben, der schreit.


Ich versuche, denselben Weg zurück zu nehmen, um mich wieder hinzusetzen, vielleicht ist dort jemand, den ich kenne, der mit mir redet, mich zutextet und vor allem Antworten erwartet, mir eine Aufgabe gibt. Und tatsächlich sitzen da Menschen herum, es drängeln sich doch nicht alle derzeit lebenden Individuen um den alten Schaukasten, um einen Blick auf das Mensa-Essen zu werfen, hier sind in der Tat auch noch welche. Aber ich kann kaum noch etwas erkennen, das Hören hat vor einigen Minuten auch mehr oder weniger seinen Dienst eingestellt, als hätte man mir die Ohren mit Beton ausgegossen. Ich merke, daß ich gar nicht weiß, ob ich die dort Sitzenden kenne oder nicht. Ich kann nicht sagen, ob ich weiß, wer das ist, oder nicht. Ich habe einfach keine Ahnung, schon mal gesehen oder nicht, wer weiß, ich jedenfalls nicht.

Scheiße, das sind beschissene Voraussetzungen für Small-Talk, es wird
wohl besser sein, wenn ich hier verschwinde. Scheiß der Hund auf die
restlichen Veranstaltungen, ich will nichts mehr damit zu tun haben, ich
will nicht mehr denken und vor mich hin existieren, ich will irgendwohin, wo es dunkel ist, irgendwohin, wo Ruhe herrscht, irgendwohin, wo sich nichts mehr dreht, ich will, glaube ich, wieder ins Bett.


5) Off

Also war der Kampf verloren, zumindest für heute verloren. Er packte
seine Sachen und ging zum Bus, setzte den Kopfhörer auf und driftete
weg. Er übergab sich an die Musik und hatte endlich ein wenig Ruhe. Aber
was niemand sehen konnte, was auch er nur ahnte und nicht wußte: er nahm
alles mit. Alles, was ihm heute passiert war, steckte in seinem Kopf,
begleitete ihn, wohin er auch ging, wartete nur darauf, erneut loszuschlagen, auszubrechen, in ihm zu explodieren. Er ahnte es nur und er ahnte auch, daß ihm irgendwann die kleinen Fluchten nicht mehr helfen würden, aber heute taten sie es. Er ging, hörte Musik und hinter ihm verschwanden die Häuser und Menschen, hörten auf zu existieren, bis er irgendwann wieder kommen würde. Er hatte verloren, aber was hätte er auch tun sollen, dachte er sich und außerdem "This is my truth, tell me yours".

Kontakt zum Autor: Johannes Rose - jrose@geschichte.uni-bielefeld.de
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