Morgendämmerung  oder  Eos Kuss

Warum immer morgens? Warum verfällt man immer morgens in so eine sentimentale Säuselei? Liegt es an der Wahrheit, die Eos an den Lippen klebt? Die ersten Strahlen der Morgendämmerung küssten meine gereizten Augen und ich erwachte. Mein Körper fühlte sich noch betäubt von den Eskapaden des Vorabends. Einen Moment lang inne halten. Orientierung und Motorik ins Gleichgewicht bringen. Das zarte Perlmutlicht ließ seine Haut wie Elfenbein schimmern. Schön. Es war eine gute Nacht gewesen. Eine Erinnerung, die nicht so schnell die Flucht ergreifen wird. Noch nicht mal irgendwelche Autos konnte man hören.

Diese ganze Atmosphäre am Morgen ist von Frieden genährt. Eigentlich die Zeit, in der man gerne nachdenkt. Egal welche Ausmaße es annimmt. Diese Zeit hat zuviel Schönheit, als dass du dich von deinen Geistern fertig machen lassen würdest. Ideal um auf Gedanken zu stoßen und in Nostalgie zu schwelgen. Die Sonnenstrahlen wurden stärker und safranfarben. Eos, wie schön musst du gewesen sein, als dich Ganymed in seine Arme schloss. „Sogar im Morgenrot ist deine Haut so tot,“ hörte ich mich sagen. Vielleicht nicht der geistreichste erste Satz des Tages, aber immerhin eher als so manch anderer. Ich konnte mir auf die Schulter klopfen und gleichzeitig resignieren. Sein Haar war ebenso tot. Der Geruch zu schwer. Eine üble Note der Verwesung, die sich noch an meine Seele haften könnte. Ich musste zu einem Ort flüchten, der mir Wohligkeit einflößte. Nun sitze ich am Balkon mit einem Joint zwischen den Fingern und denke über mein Leben nach, während ich diese einzigartige Tageszeit genieße.

Jemand liegt in meinem Bett, und ich hab keine Ahnung, wie viel Leben in diesem Wesen steckt. Vermutlich sind die Augen ebenso tot wie der Rest. Der Alkohol hat ihnen den Glanz aufgemogelt, wie bei den meisten. Aber es gab sie. Die Personen, dessen Duft man gleichzeitig mit einer sinnlichen Wohligkeit aufsaugt. Um diese Tageszeit denke ich am liebsten über die glorreichen Momente nach. Die Art von Ereignissen, wo man sich hauptsächlich an das Feeling erinnert, dass dich auch gleich dämlich grinsen lässt. Es gab da mal einen Burschen, den ich bei einer Sauftour, die eine Woche dauerte, kennen lernte. Jeden Vormittag lagen wir in einer Wiese und tranken Bier. Quatschten über Gott und die Welt und ich betrachtete ihn dabei verstohlen. Er hatte einen so wunderschönen Körper, dass ich ihn am liebsten angefallen wäre wie ein wildes Tier - und er hatte ein so starkes Karma. Sein ganzes Wesen schien durch seine Augen in die Welt zu schreien. Für viele andere war er bloß ein Bursche, der alles mit machte, verbal aber kaum aus sich heraus kam. Am dritten Tag hatte er mich im Bett. Völlig betrunken und auf Trips erklärte er mir, dass ich das interessanteste Mädel wäre, das er in den letzten Jahren kennen gelernt hat und er würde mir gerne die Welt zu Füßen legen. Dann resignierte er. Er war ja wirklich ein armer Kerl, der immer wieder von der Justiz gefickt wurde und er rächte sich nur damit, auf die Justiz zu scheißen.

Wir beide wussten, dass er in den nächsten Monaten wahrscheinlich wieder im Knast landen würde. Er war im Grunde wirklich ein guter Junge, aber wer will das schon noch sehen, wenn die Vorstrafen ihm nahezu auf der Stirn kleben, weil er in einem Kaff lebt. Kaum jemand. Zu oft ist man nicht, was man ist, sondern man ist, was man hat. Traurig irgendwo diese Welt. Mich törnte es an. Die nächsten Tage der Sauftour verbrachten wir gemeinsam. Ich saugte sein Karma ebenso gierig wie seinen herrlichen Körpergeruch auf. Und während ich mir den Mund fusselig laberte, kitzelte ich ihm dabei die Wahrheiten aus dem Kopf. Eine perfekte Symbiose. Kurzlebig. Wir wussten, ich musste bald wieder zurück, um meinem Weg zu folgen und er würde nicht mehr da sein, wenn ich wieder komme. Vielleicht war es auch das, was es spannender machte. Wahrscheinlich sogar. Jedoch kommt mir auch jetzt sein Geruch in die Nase, nur weil ich an ihn denke und der Sonne beim Aufwachen zusehe. Er war eine der glorreichen Erinnerungen, die das Leben erträglicher machen. Er war einer meiner schönen Momente, an die ich wohl noch denke, wenn ich am Sterbebett liege.

Augenblicke können das Leben sein, wenn man sie nur zu schätzen weiß, und nun werde ich warten, bis die Sonne strahlt, die schöne tote Hülle aus meinem Leben scheuchen und einfach weitermachen, bis ich zu müde fürs Aufwachen werde.
 

Copyright 2007, Riccarda Reinwald
Alle Rechte vorbehalten -
AgentPain@gmx.net
zurück zu Riccarda Reinwald zurück zur Startseite