Hermann, bist du es?

 
In diesem Tablettchen haben sie all den Wahnsinn für mich verpackt, 888 Buchstaben des Teufels, die sich in meinem Gehirn zu einer tödlichen Ladung irrsinniger Ideen zusammenballen, und jeder Versuch zu denken, das Denken, das Zusammenfügen von Gedanken, denkende Gedankenlosigkeit, Leere, Dunst ist vergebens, nutzlos, vergebens und nutzlos, und aus einem Nebel steigt diese Frau langsam und deutlich hervor, verstellt meinen Blick, wirft ihr breites Tuch einer Anwesenheit über meine Augen, blendet mich mit Blindheit.
Ich weiche zurück, einen Schritt zurück, kilometerlange Sandstrände im Rückmarsch, 5 Jahre zurück, 33 vielleicht, ein langer Weg bis nach Hause. Und von der Ferne ertönt eine Klingel, eine Klingel, die mich erinnert, aber an was erinnert?, an ein Geröll von Worten in meinem Kopf, zusammengeschweißt aus 888 Buchstaben der Hölle. Diese Klingel, immer wieder diese Klingel, ertönt von irgendwoher und schon entsteht aus Tönen ein tönerndes Bild. Blonder Backenbart, blond gekringeltes Haar, bärtiges Haar, haariger Bart, ich kenne, ich greife, vergreife mich in dem Bild, ziehe es aus Tönen hervor. Und ich sehe alles klar. Denn da ist er. Hermann. Hermann. Bist du es?
Er steht auf der abgefahrene Held, verneigt sich vor der Erinnerung, ersäuft statuenstarr auf der Stelle, eingewachsen im Lichtschein einer zufälligen Lampe und aus holpernden Schritten aus Holz, aus klapperndem Absatz mit weißem Schuh entsteht ein weißes Gespenst aus dem Nichts mit weißem Kittel, weiße Schuhe tanzen still auf der Stelle, vergraben sich hölzern im Boden, im Dickicht von Holz, Zeder, Pinie, Mahagoni. Und ich verstehe nicht, denn das Gespenst hält mit klapprigen Fingern das weiße Tablettchen vor mein Gesicht. „Nehmen Sie, nun nehmen Sie schon.“
Da liegt er direkt vor mir der Wahnsinn, verkleinert zusammengeballt verpackt reißt er den Schlund auf, mich zu verschlucken, mich einzuverleiben und in sich zu verdauen. Ich weiche zurück, einen Schritt zurück, rase über Sandstrände 5 Jahre und 33 Tage lang zurück nach Hause, blind geblendet von der Klingel, die ruft, immer wieder den gleichen Ton, rufend mit 888 verzerrten Buchstaben. Hermann. Bist du es? Bist du es, Hermann?
Das Tablettchen rollt in meinen Mund fast von ganz allein, Wasser fließt die Kehle hinab, flüssig fließender Fluss des Todes, das Tablettchen unter der Zunge vergraben, eingesperrt im Kerker befreit es sich langsam, löst seine giftigen Substanzen. Schon rollt mich der Geist der Hölle mit lächelndem Antlitz in die Falten des Lakens, zupft an meinen Ecken und Kanten und ich sabbere in der Kurve der nächsten Drehung den eingespeichelten, abgestandenen Rest einer lähmenden Suppe in die Botanik des entfernten Grüns einer Topfpflanze, vielleicht eine Palme, ein Vergissmeinnicht, eine Azalee, ein Nimmersatt?
 
Aber ich bin ja nicht hier, ich reise in Welten, entstehe und werde, werdend entstehe ich aus der Entstehung werdend. Ich fliege jetzt über den Häusern, während eine Geisterhand ihren Lappen schwingt, ein nasses Warm wärmt das Nass, ich aber über Häusern im Universum versunken auf einem Thron erzähle Geschichten, Jahrhunderte voller Geschichten aus 888 Buchstaben des Totenreiches zusammengesetzt, im Gehirn eine schussbereite Ballung irrsinniger Gedanken, die die denkende Gedankenlosigkeit des Denkens einen Berg aus Schutt, Asche, Aschenschutt hinabrollen lässt. Wer bin ich? Eine Hand am Geländer, ein schnappendes Entlanghangeln am Geröll verwesender Zeit, eine Geschichtenerzählerin mit 888 Buchstaben aus Jahrhunderten im Universum denkender Gedankenlosigkeit zersetztes Wesen?
Da sind sie wieder die Nebel der Zeit, eingefangen aus Molekülen der Luft, treten Vergangenheiten in das Licht der beginnenden Nacht und ein Mond zieht Sultansnächte im Schlepptau an mir vorüber, die Trinkgelage verwilderter Horden, Exekutionen auf dem Marktplatz und wir segeln die Weltmeere entlang, du und ich, also setz dich mein Kind, ich berichte dir von der Welt. Aber wo ist der Held, abgefahren und allein? Wo ist Hermann? Wo bist du? Hermann, bist du es?
Das Kind ein weißes Ding, jung und schon alt, steht mir im Weg, verweigert jeden Gehorsam, will nicht, will nichts, nicht essen, schlafen, hören, sitzen, steht mir im Weg, der Sultan schwingt einen lähmenden Gaul, Horden verwilderter Betrunkener zerfallen zu Staub, aus Asche bist du geboren, zu Staub wirst du verpuffen. Ich erinnere mich nicht. Nur das weiße Ding in meinem Blick, versperrt mir die Aussicht, keine drei Jahre alt und groß gewachsen, zieht es mir Lappen vom Leib, wedelt mit Nass über meinen Körper, verdrehte Welt flüssiger Substanzen im fließenden flüssigen Fluss des Todes. „Ganz ruhig, gleich schlafen Sie ein. Bald wirkt es.“ Aber was bewirkt hier irgendwas?, klingen unruhige Füße an meinem Ohr. Wo ist Hermann? Worte im Raum, die keine sind, verbinden sich zu einem Echo aus Hermann, Hermann, Hermann. Wo bist du? Bist du es? Wo?
Plötzlich sticht mich das Messer der Brust im Nebel der wachsenden Erkenntnis, die mit großmäuliger Rede Wahrheit in Lüge verkehrt. Mein Hermann, verschwunden, verscharrt, entfernt, abgetrennt wie das Gewächs eines siamesischen Zwillings. „Gleich haben wir es geschafft“, sagt das Kind, aber ich weiß nicht, was denn überhaupt? Hermann vergraben, verscharrt, verbuddelt, verwest. Es hechelt mir in der Brust herum, riesige Augen glupschen in die Welt, weißer Kittel und weißer Schuh bewegungslos in den Boden des Holzes, hölzern verbohrt.
„Ganz müde“, spricht der Geist, die Augen fallen zu, nicht sterben trommeln die Paukenschläger, viel zu jung löse ich mich in mir auf, zerfalle in Einzelteile, schäle mich aus mir selbst heraus in die unbändigen Weiten eines unbekannten Landes, falle in die Tiefe eines erdachten Gedankens, der wild reitend an mir vorüber gleitet. Ich weiß nicht, wer ich bin, eine Hand am Geländer, ein Finger, der sich im Gewächs eines siamesischen Zwillings verliert? Klappernde Schuhe begleiten meine Gedanken. Schuhe habe ich immer geliebt, das Klappern auf dem Fußboden, Absätze, die sich in das Holz des Bodens graben. Hohe, spitze, eckige Absätze? Schuhe habe ich immer geliebt und wir wanderten über die Einkaufsmeilen der Stadt, blieben vor Schaufenstern stehen, ein haftender Blick auf ein Farbenmeer aus rot, blau, grün.
Ich bin Geschichtenerzählerin, flatternd flattern mir Buchstaben zu, aus 888 Silben erschaffen, ein Meer von Geschichten, ein Lebensmeer aus Wörtern, die zu Silben mutieren, im Großen liegt das Kleine gefangen, müde bin ich, geh zur Ruhe, schieße mir die Augen zu. Morgen erzähle ich neue Geschichten. Jetzt nur noch ein Spalt, die Welt wird zum Strich. Ein Strich über die Stirn, nasser Lappen, der mit Lavahitze mein Gehirn auflöst, alles aus mir herauswäscht, auch Hermann, nur Moleküle, bunt gefärbt in einem Farbenmeer, ich halte dich fest, Hermann, halte dich ganz fest, schlucke dich in mir auf, beiße dich an mir fest. Ich habe dich endlich gefunden in den Silben eines mutierenden Farbenmeeres. Betrunken tragen dich Wilderer auf dem Sternenmeer, während der Sultan auf seinem Schlitten die Tür findet zum Ausstieg des Universums.
Glück durchbreitet mich, denn da bist du aus knöchernen Schultern geboren und ein letzter Sultansgruß beteuert. Da ist Hermann. Ich lache, lachend vernichte ich das Universum, den Sultan, die Wilden, den Geist und mich. Hermann, ich erkenne dich aus den Niederungen der Weiten eines weißen Tablettchens, versabbert in der Botanik einer Topfpflanze. Große Dankbarkeit erfüllt mein Herz. Ich küsse die vertrockneten Blätter deines Gesichtes, ersteige die knorrigen Äste deiner Gestalt, niste mich in dir ein, Eier legend erschaffe ich brütend die neue Welt. Endlich. Endlich endend voller Endlichkeit bist du bereit für mich. Hermann, da bist du. Sei gegrüßt und willkommen. Und aus dem Nebeldunst unserer Vereinigung ertönen Glocken mit lieblichem Klang, der sich in Worten verliert. Bist du es, Hermann? Hermann, bist du es?

Kontaktadresse: Louise Lunghard - louiselunghard@gmail.com

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