Fluchtpunkt

 
Es ist an der Zeit abzuhauen. Glück wird in der Großstadt gezimmert. Kein zufälliger Euro, der in den Hut plumpst, sondern ein Arsenal von Scheinen in Farben von grünem Wachstum über rote Liebe zu gelbem Lachen. Beschluss getroffen.
Wenn alle fliehen, ist Bleiben überflüssig. Karl fährt in Gedanken der Masse auf einem Fahrrad hinterher. Eilige treiben Autos und Umzugswagen an. Beladen durch angehäuftes Gerümpel und Sammlungen mit dem Aufdruck Vergangenheit geht es samt nutzlosem Krempel im Handgepäck auf zum Überleben. Nichts wie weg, um der Todeszone der Kleinstadt zu entkommen. Brodelnde Gefahren aus Beobachtung, Intimität und Stille hinter sich lassend, wird der Aufbruch gestartet in die schützenden Arme der Großstadt. Nur dort in der Kälte der Anonymität und Beschallung von Lärm ist Leben lebbar.
Karl radelt 100 km zur nächsten Großstadt. Auf dem Gepäckträger ist sein Hab verankert: Ein alter Hut als Auffangstation für Münzgeld und größere Beträge, in einer Tasche zusammengeworfene Klamotten desselben Jahrgangs. Ewig war Karls Heimat die Innenstadt einer 10.000-Seelen-Gemeinde. Hier war er König unter den Gammlern, bevor die Einwohner-Schrumpfung begann und alle mit Entsetzen aus der zum Sperrgebiet verdammten Einöde flohen. Die Kühe auf den Weiden harren in Anwesenheit letzter Bauern auf endgültige Vernichtung.
Vor zehn, zwanzig Jahren kamen die Eiligen mit Autos und
Umzugswagen. Beladen durch angehäuftes Gerümpel und Sammlungen mit dem Aufdruck Vergangenheit ging es samt nutzlosem Krempel im Handgepäck zum Überleben auf das Land. Nichts wie weg von der Todeszone der Großstadt. Brodelnde Gefahren aus Gleichgültigkeit, Anonymität und Lärm hinter sich lassend, wurde der Aufbruch gestartet in die schützenden Arme der Natur. Nur dort in der Wärme der Intimität und Beschallung von Stille, war Leben lebbar. So kamen sie aus den Städten gesprungen, in ganzen Horden reisten sie an, trugen Stein auf Stein ihre Reihenhaus-Festungen auf, legten grüne aus England importierte Matten vor Terrassenausgänge, pflanzten Bäume und Kinder, genossen Ruhe bei geschlossenen und mit Stoff verhängten Fenstern.
Karl ist nun in der Großstadt angekommen. Hinkende Zigeuner, Straßenmusikanten und Arme machen ihm Konkurrenz beim Einsammeln von Noten der Zentralbank. Lilafarbene Haare und auffällige Piercings konkurrieren mit den Äußerlichkeiten des Königs der Gammler aus der Kleinstadt.
Die Eiligen sind mittlerweile mit dem Fallschirm aus Dörfern gesprungen, in ganzen Horden touren sie an, lassen Platte für Platte ihre Hochhaus-Siedlungen verkleben, pflastern grünen Kunstrasen aus dem Baumarkt vor Balkonausgänge, züchten Kräuter, erfrieren Eizellen, dekandieren den Lärm bei geschlossenem unverhängten Fenster. Von irgendwoher schreit ein einsamer Uhu Papa aus dem Versteck eines Hinterhofes.
Vergangenheit wird befragt: Gab es in der Geborgenheit der Kleinstadt die Geborgenheit der Kleinstadt?
Es sind keine Wochen vergangen als Karl rückwärts radelt. Er sitzt jetzt wieder im Einerlei der Kleinstadt. Hinkende Zigeuner, Straßenmusikanten und Arme machen ihm keine Konkurrenz beim Einsammeln von Münzen der Münzdruckerei. Lilafarbene Haare und auffällige Piercings konkurrieren völlig ungeplant mit den Äußerlichkeiten des Königs der Gammler aus der Kleinstadt.
Gegenwart wird befragt: Gibt es im Trubel der Kleinstadt den Trubel der Großstadt?
Die Eiligen von lilafarbenen Piercings gelockt, rücken wieder am Rand der Kleinstadt an, reißen Festungsmauern nieder, schichten Fahrräder zu Müllbergen, rösten Eizellen in der Sonne, bauen aus Wolken Kratzer.
Karl liegt unter einer Plane verborgen. Ganz still. Schweigen ist Gold oder tödlich.
Die Eiligen befinden sich in der Kehrtwende. Sie rasen auf die Stadt zu und prallen auf eine unüberbrückbare Festung aus Anonymität und Stille, Intimität und Lärm. Immer werden die Eiligen laufen. Sie laufen immer.
 

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