Seit Ewigkeiten arbeite ich in dieser Klinik für Neurodegenerative, in
dieser Klinik für Entartung, Zerfall, Niedergang und Zerrüttung. Für
gewöhnlich tippe ich Briefe, vereinbare Verabredungen für den Oberchef,
melde mich mit fremdem Namen am Telefon,
Sekretariat Prof. Dr. Zellchaos,
sitze da in einem Zimmerchen von zwanzig architektonisch schlecht geplanten
Quadrat, sitze da abseits von Gewimmer, Geklage und Geheul, und stolpere
beim Schreiben von Befunden über Epidemien von Gebrechen, über Diagnosen,
die wenig Gutes berichten. Doch jeden Abend entsorge ich all das Erlernte in
der hintersten Schublade meines Unterbewusstseins, dieser Sondermülldeponie
der Grässlichkeiten, entsorge ich den unaufhörlich weiter wachsenden Haufen
exekutierter Wörter in einer Tonne, die ich mit einem Deckel verschließe und
mit der Kraft eines Siegels bis zum Ende der Zeit verplombe.
Wäre ich ihr nur nie begegnet.
Als Leibeigene eines weißen Gottes führe ich jede mir übertragene Aufgabe
mit gewissenhaftem Schein bis zur Perfektion aus, mache dies und das,
aber gerne, Herr Prof.
wandere in langen Märschen durch die Flure der Klinik, übersehe die an die
Wände gestapelten und zusammengefalteten Körperreste einst lebender Personen
und nicke mit eingefrorenem Dauerlächeln für den Fall jeder zufälligen
Begegnung.
Vor Zimmer 356 saß sie und ich setzte mich auf den einzigen vorhandenen
Stuhl direkt neben ihr rollendes Hilflosengefährt, auf meinem Schoß ein paar
Unterlagen zwecks Überbringung an den Restaurator von Seelen hinter der
geschlossenen Tür, auf den ich warten musste, obwohl er eigentlich auf
mich... Diese Klinik ist voller Wahnsinniger und manche haben den Wahnsinn
sogar studiert.
Ich saß bereits viel zu lange vor Zimmer 356, wartend, unruhig, wartend, und
alles, was ich in diesem Moment keinesfalls, nie im Leben, genauer gesagt um
keinen Preis des Universums wollte, war dieses Gespräch oder besser Gefasel
von Backbord, bestehend aus einer Anhäufung artikulationsberaubter
Buchstaben als Geschoss zerfetzter Wörter.
Beiläufig nahm ich dieses auf Raten sterbende und von Siechtum zerfressene
Wesen neben mir zur Kenntnis. In Gedanken war ich bereits der Gegenwart um
Längen voraus, sah mich abends die Angebote im Internet durchgehen auf der
Suche nach Dingen, die mein Leben oder mich dekorieren, bat die Engel oder
wer immer einem da helfen kann, um eine zügige Öffnung der Tür von Zimmer
356, als plötzlich ein Hauch von Wind meine Frisur durcheinander brachte.
Vor meinen Augen flatterte ein großes Stück Papier, abgerissen aus einem
Zeichenblock im DIN A 5 Format, dessen einst freie Fläche nun ein
windschräges Strichhaus zierte. Für das Einbringen von Fenster und Türen
hatte offenbar der Platz nicht gereicht, denn sie ragten seitlich aus dem
Haus hervor und Farben aus einem Malkasten waren großzügig über das
Kunstwerk gekleckst.
Ich sagte laut:
Sensationell.
Das Halbtote neben mir verzog das Gesicht zu grimassierendem Lächeln und
nickte aufgeregt in der Bemühung, mein Kunstverständnis einer
180-Grad-Wendung zu unterziehen.
Glückwunsch,
fügte ich hinzu.
Geniale Leistung.
Nur Minuten später kam einer angeholpert, einen riesigen Koffer im Heck,
ich habe die Entlassungspapiere,
sagte er, während mir goldene Ringe an zwei Händen entgegenblitzten als
Zeichen ehemals inniger Verbundenheit und noch während die Bruchbude von
Behausung in der Luft flatterte und dort endgültig in seine Bestandteile
zerlegt wurde, sagte der Mann:
Ich gehe schon mal vor.
Das Hilflosengefährt nahm Kurs auf in Himmelsrichtung des Vorauseilenden,
doch der Abstand zwischen beiden vergrößerte sich um Meilen. Sie rollte
Millimeter um Millimeter in Zielrichtung weiter, auf dem Schoß ihr
Kunstwerk, diesen gescheiterten Versuch einige Farben zu einer erkennbaren
Form, zu irgendwas Ansehnlichem zusammenzubasteln. Aber da war nichts. Nur
das Gekleckse einer motorisch hochgradig Gestörten oder im günstigsten Fall
der Beweis begnadeter Fähigkeiten eines Dreijährigen in Ausübung eines
kreativen Farbanschlags.
Der Mann legte derweil den vierten Gang ein, vermutlich in der Absicht, das
Verbindungsseil zwischen ihm und ihr zum Reißen zu bringen. Die
Scheidungspapiere flatterten sichtbar aus seiner Jackentasche, Buchstaben
fielen auf den Flur, hinterließen eine Spur,
Stolpersteine aus Entschuldigungen,
ich habe mir mein weiteres Leben anders vorgestellt,
Stolpersteine aus Mitleid,
und dabei bricht es mir das Herz, dich allein zu lassen,
Stolpersteine aus vorhandener Zukunft,
ich habe doch noch so viel vor,
Stolpersteine aus dem Wunsch nach Nachsicht,
das verstehst du doch! Oder???
Sie, weit hinter ihm, ahnungslos wie ein Schaf kurz vor der Schlachtung, sie
hinter ihm, im Beiboot des Lebens, noch verstrickt mit dem Mutterschiff,
aber bald bereits offener See ausgeliefert, von Wind und Sturm gebeutelt bis
zum gnädigen Absaufen auf dem Meeresgrund.
Na, dann noch ein gutes Leben,
rief ich ihr hinterher. Ihr Lebensfilm rollte vor meinen Augen ab als
alleinige Zuschauerin im Kino der Verdammten. Beide waren bereits um Ecken
gebogen, ihr neues Los aufzunehmen, diese Bruchstücke eines Puzzles
zusammenzufügen, das nach mühsamen Wochen und Monaten sicherlich ein Bild
mit fünf Buchstaben in Großschrift ergab, leuchtend und unabwendbar.
VORBEI
Stunden später nach Tätigkeiten des Botengängers, Kaffeekochers,
Nachrichtenüberlieferers, Briefetippers verließ ich die Klinik. Bereits als
ich im Auto saß, Hutmänner und Frauen in der Windschutzscheibe direkt vor
der Stoßstange, spürte ich diesen Druck im Nacken. Der Geist des Biestes aus
der Klinik hatte sich an mir festgezimmert und flüsterte mir leise in das
Ohr.
Bist du glücklich?
Sprich die Wahrheit!
Bist du glücklich?
Ich klopfte mir auf den Nacken, schüttelte den Kopf, versuchte das lästige
Insekt loszuwerden. Nur das Biest schrie unaufhörlich die gleiche Litanei,
eine ellenlange Aufzählung leerer Worte.
Dir geht es so gut.
Dir geht es so gut.
Warum bist du so schlecht?
All die Lügen der Vergangenheit fielen mir aus dem Gesicht direkt in das
Herz hinein und eine eisige Hand presste den Muskel zusammen. Mit wackligen
Beinen kam ich in der Heimat an, verriegelte die Tür und befragte den
Spiegel im Flur.
Wer bin ich?
Der Spiegel begann zu lachen und startete die Diashow meines Lebens. Voller
Entsetzen blickte ich in den Scherbenhaufen, dessen Splitter in rasanter und
siegesreicher Gewissheit an mir vorbeiflogen
Und auf einmal hasste ich dieses Wesen, das mir im Nacken hockte, mein
Gesicht in Teile riss, und gleichzeitig beneidete ich es für die vielen
bevorstehenden Änderungen in seinem Leben, in welche Richtung auch immer,
denn ich stand in hoffnungsloser Starre auf der Stelle.
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