Ich bin behindert, und du?


... Wenn du auf einer einsamen Insel bist, welche drei Gegenstände würdest du mitnehmen, was war der schönste Tag in deinem Leben oder wenn du jetzt ich wärest, was würdest du machen?
Diese Art der Fragen taucht immer wieder auf, ob in Fernsehfilmen, -serien oder im Gequatsche unter Freunden. Bei der ersten Frage – muss dazu sagen, ich selbst wurde das noch nie gefragt, aber ich hatte auch selten ein Gequatsche, aber in Gedanken – habe ich stets mit: Klopapier, Feuerzeug und Tina geantwortet. Ich hasse nichts mehr, als wenn man es schon fast nicht mehr bis zum Häusl schafft, dann überglücklich, dass nichts in die Hose gelangt ist und dann die gähnende Leere meist links in sitzender Augenhöhe. Das Feuerzeug brauch ich für Tina, nicht um sie anzuzünden, denn da hätte ich sie ja nicht mitnehmen müssen, nein, sie liebt Kerzenlicht abends. Die berechtigte Frage, wo jetzt die Kerzen seien? Entweder man schwindelt und nimmt vier Sachen mit oder man lässt seiner Fantasie freien Lauf. Mit Tina komme ich zur zweiten Antwort, dem schönsten Tag in meinem Leben, und bei der dritten tue ich mich ein wenig schwer, denn wer will schon von einem Spastiker wissen, wie er denkt.

Noch vor einiger Zeit habe ich den Kopf geschüttelt und mir konnte keiner einreden, dass es einen Tag im Leben gibt, von dem man sagt: Das ist der schönste in meinem Leben. Da wachsen ja oft Klischees wie derzeit Wettbüros in Wien. Hochzeitstage werden da zum Beispiel oft genannt, die Kehrtwende zum schlimmsten Tage liegt da sehr nahe, Genie und Wahnsinn, Freud und Leid eben. Aber seit diesem Tag könnte ich auch eine Antwort geben, und ich bin mir sogar sicher, dass es der schönste bleiben wird, da bin ich auf einmal weiter, als viele zu glauben denken. Es macht zwar ein wenig nachdenklich, denn man ist sich ja sicher, dass nichts Schöneres mehr im Leben eintreten wird, aber die Gedanken sind frei und meine Erinnerungen auch.

Witziger weise, denn Zufälle gibt es ja angeblich keine, beginnt dieser schönste Tag in einem Krankenhaus, einer meiner Donnerstage, zwar jetzt nicht der, welchen ich nun gleich beschreibe, aber eben einer dieser Donnerstage, also eine dieser obligatorischen, wöchentlichen Untersuchungen.
Es war zwei Wochen nach dem Zwischenfall, wo mich die Krankenschwester so blamierte. Die Woche drauf konnte ich fast nicht erwarten, denn ich dachte mir, das Lächeln ist der Weg zum Wort, aber dann die große Enttäuschung. Zuerst dachte ich: Ich Rindvieh lass mir so viel Zeit, dass ich ja nach ihr ankomme und dann komme ich so spät, dass sie schon wieder weg ist.
Meine Blicke sausten beim Betreten des Saales wie verrückt im Kreise, nirgends war sie, die Gedanken schrien die Worte „Klosett“ und „vielleicht schon drinnen“, aber und abermals. Stundenlang nach meinem Termin verharrte ich noch vor dem Spital, denn drinnen in der Wärme, ja da wäre es um vieles angenehmer gewesen, aber diese Vorstellung wollte ich dem Personal und mir die Blamage nicht mehr geben. Ich dachte immer, das sei nur eine Redensart, wenn jemand das Blut in den Adern gefriere, damals glaubte ich, es könne tatsächlich so sein. Mein einziger Halm, an dem ich mich festklammerte, war die Möglichkeit einer Erkrankung und so versuchte ich eine Woche, sieben Tage oder 168 Stunden lang den Ge- danken zu verdrängen, dass ich sie nicht mehr sehe.

Ängstlich, früher als je zuvor und doch mit einem kleinen Funken an Hoffnung schritt ich mit unsicheren Schritten dem Wartesaal entgegen und, ja genau, sie war wieder nicht da. Unsicher suchte ich mir einen Platz, einen, von dem ich den Gang sah, der zur Rolltreppe und in weiterer Folge im Erdgeschoss ins Freie führt. Von meinem Platz aus, vor allem in sitzender Position sieht man bei den die Rolltreppe heraufkommenden Personen zuerst das Haupt, erst Sekunden später die gesamte Gestalt. Jedes Mal, wenn ich von weitem ein blondes Haar erkennen konnte, stockte mir kurzzeitig der Atem, die Enttäuschung, die kurz darauf folgte, musste von meinem Sitznachbar zur Linken zu hören gewesen sein.

Eine Diskussion zwischen einer Schwester und einer sorgenvollen Mutter artete aus, die Streitgespräche wurden immer lauter und verständlicher, sodass man einfach in den Bann gezogen wurde und zuhörte.

„Entschuldige, ist da frei?“ Diese Worte kamen von so sanfter Stimme, als ob die Stimmbänder mit Kreide balsamiert worden seien. Irritiert schaute ich hoch und traute meinen Augen nicht: Ein Lächeln, jene Freudigkeit, die mich vor zwei Wochen in so große Hoffnung versetzt hatte, wurde mir, und in diesem Fall wirklich nur mir, geschenkt. Da geht man jegliche Konversation im Geiste zigmal durch, spielt Rollen vor dem Spiegel, so als würde man kurz vor der Premiere stehen und dann kommt nur ein einfaches, stotterndes „Was?“ heraus.

Sekunden später ließ ich meinen Film nochmals ablaufen und war schockiert, dass ich ihr so antwortete, wollte es wiedergutmachen und mich vor ihr erheben, aber meine Füße ließen es im Augenblick nicht zu. Ich denke, das ganze Szenarium hat so 30 – 40 Sekunden gedauert und ehe ich mich verbal entschuldigen konnte, kam sie mir zuvor.

„Ich würde mich gerne neben dich setzen, hier ist doch frei, oder?“
Er jetzt merkte ich ihre eigenartige Sprechweise, sie ließ einige Silben weg und sprach sehr undeutlich, ihr Mund bzw. ihr Gaumen und ihre Zunge hatten Probleme, die Silben deutlich auszusprechen, so als würde eine Lähmung dies alles hemmen. Auch jetzt erst erkannte ich, dass sie große Probleme hatte ruhig stehen zu bleiben, eine Krücke hatte sie als Unterstützung unter dem rechten Arm. Ihre Beine wurden sekundenweise durch Nerven- oder Muskelverspannungen gestraft, aber sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und ihr Lächeln war ernst gemeint, das konnte sogar ich sehen. …

 

Kontakt zum Autor: Harald Jelinek: h.jelinek@gmx.at
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