Links gehen - Rechts stehen - Bitte festhalten

Viehwagen.

Anders kann man die Untergrundpest nicht bezeichnen.

Die Leute stinken, sie blöken und glotzen tumb aus den Fenstern, hinter denen sinistrer Beton mit Tempo Sechzig vorbeirauscht.

Viecher.

Der einzige Unterschied zu Schweinen oder Kühen besteht darin, dass S-Bahnpassagiere nach dem Aussteigen nicht geschlachtet werden.

Schade eigentlich.

Ich sitze in der hintersten Ecke des Waggons und versuche möglichst böse aus der Wäsche zu gucken. Neben mir befindet sich der einzige freie Platz und das soll auch möglichst so bleiben. Sollen die Kotzbrocken ruhig stehen.

Eine ältere Erdmöbelanwärterin schwankt rheumatisch im Gang hin und her und richtet begehrliche Blicke auf den unbesetzten Platz. Ich sehe sie an, sie sieht mich an.

„Oahblutkowabanga!“ brabbele ich und Oma überlegt es sich anders. Erstaunlich behände stolpert sie an andere Abteilende.

„Na also, geht doch.“

Es ist anstrengend öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.

Dennoch, manchmal ist es gar nicht so übel, mit der Straßenbahn zu fahren. Dann nämlich, wenn man einer zwei – bis vier – Stationen – Affäre begegnet, einer Frau, einem Gesicht oder auch nur einem Geruch. Einem kurzen Eindruck, der dich weghaut oder, noch besser, einem Flirt von der Uni bis zur Innenstadt, wenn sie sich dir gegenüber hinsetzt.

Man sagt kein Wort, man tauscht keine Nummern aus, nichts. Nur ein Lächeln, vollkommen frei und unverbindlich und abends entspanntes Onanieren unter der Dusche, zumindest solange, bis der Scheißboiler wieder ausfällt und das Kälteschrumpfungsprinzip gnadenlos zuschlägt.

Es gibt ja Leute, die nichts Besseres zu tun haben, als nach einer solchen Begegnung eine Anzeige in den lokalen Printmedien zu schalten, vorzugsweise bei denen, die Gratisinserate anbieten. Das klingt dann in etwa so:

„Hilfe! Linie 13, so vor drei Wochen, Dienstags nachmittags (kann auch Montag gewesen sein!). Du (dunkle Haare, lange Haare, dunkelgrüner Pulli, süßes Lächeln) bist an der Haltestelle in der Nähe vom Aldi ausgestiegen. Ich (Lederjacke, Sneakers) hab acht Reihen hinter dir gesessen und würde dich gern wieder sehen. E-mail: legdichhin@dumpfbackenweb.de “

Es ist fraglich, ob irgendeiner dieser verzweifelten Lebensleghasteniker aufgrund einer solchen Armseligkeitsdokumentation seine Angebetete je gefunden hat. Und falls doch, dann möchte ich nicht die Früchte einer solchen Verbindung kennen lernen.

Wirklich nicht.

An einer der Haltestangen, die sich immer leicht schmierig anfühlen und alles andere als Halt bieten, steht ein Traum in Fleisch.

Eine Weile starrt sie auf eine der Werbeanzeigen, die an der Innenseite der Fenster kleben. Dann beginnt sie, die Leute zu beobachten und schließlich landet ihr Blick bei mir. Ich schaue ihr in die Augen (grün), nehme ihren Blick gefangen. Sie zeigt mir ihre Zähne (perlweiß) und ich kann nicht anders, als zurückzulächeln.

Einige Augenblicke grinsen wir uns an, dann senkt sich ihr Blick leicht verschämt gen Boden (leichengrau).

Ich überwinde mich und klopfe aufmunternd auf das Polster des Sitzes neben mir. Sie ignoriert die aufsteigenden kleinen Staubwolken und setzt sich.

Beide starren wir geradeaus auf das vorüberziehende Grau und genießen die Präsenz des anderen. Ich atme ihren sommerlichen Geruch ein.

Einen Moment überlege ich, sie anzusprechen, aber es bleibt beim Gedanken. Man sollte seine eigenen Regeln nicht brechen.

Ich begnüge mich damit, ein wenig mehr nach rechts zu rutschen, als es nötig wäre und die kleinen zufälligen Berührungen unserer Haut zu genießen.

Die Stinktiere um uns herum habe ich vergessen. Meine Sinne beschränken sich nur noch auf Riechen und Fühlen. Ich gebe zu gerne noch das Schmecken hinzuaddieren zu wollen, aber man will ja nicht gleich unverschämt werden.

Zwei Stationen später muss ich raus. Wenn ich nicht so hungrig wäre und mich nicht auf meinen eingefrorenen Hühnersuppenrest freuen würde, könnte ich glatt noch sitzen bleiben und weiter an ihrer Seite durch den miefigen Stadtuntergrund fahren.

Aber zu meiner Freude macht die Schöne ebenfalls Anstalten, die Beklopptenschleuder zu verlassen.

Ich warte bis sie sich an die Tür gestellt hat, bevor ich ihr folge und mich hinter sie stelle. Ihr wunderbarer Geruch überdeckt sogar den Transpirationsteppich des Volkes.  

Wir drängeln uns gemeinsam ins Freie, sofern man bei hundert Tonnen Stahl, Glas und Beton (vor allen Dingen Beton) von „Frei“ sprechen kann.

Sie dreht sich noch mal zu mir um, lächelt.

Ich grinse wie ein absoluter Idiot. Egal.

Sie geht zur Rolltreppe und ich folge ihr.

Die Rolltreppe ist ein endlos erscheinendes Monstrum, das der Statik zu spotten scheint. Messner hätte für so ein Ding vermutlich seinen linken Arm gegeben, aber er ist ja auch Rechtshänder, vermute ich.

Als ich mich zu ihr und einigen anderen auf das Laufband geselle, fällt mir ein Aufkleber am Geländer auf:

Links gehen Rechts stehen Bitte festhalten

steht da.

Ich stelle mich also auf die rechte Seite hinter sie und halte mich fest.

An ihr.

Ich neige zu recht festen Umarmungen, daher fällt es ihr zunächst schwer, sich umzudrehen, damit sie mich ansehen kann. Erst erscheint sie irritiert, fast verärgert, dann sieht sie mich mit ihren grünen Augen an und lächelt. Und dreht sich wieder um.

Ich lege meinen Kopf auf ihren Rücken und versuche ihrem Puls zu lauschen, was angesichts des monotonen Gerumpels der Rolltreppe unter uns gar nicht so einfach ist. Doch sie trägt nur ein dünnes Shirt (und keinen BH, wie mein Ohr glückselig ertastet), schließlich ist es August und sehr heiß, und irgendwann gelingt es mir ihren Rhythmus zu erhorchen. Wie mir scheint, ist ihr Herzschlag einen Tacken schneller als normal.

Schnell, viel zu schnell kommt das Ende der Treppe und damit des Geltungsbereiches des Aufklebers. Ich lasse widerstrebend los.

Wir treten hinaus ins Freie (diesmal wirklich) und schwüle Hitze scheint gewillt, uns zu erschlagen.

Ich fasse mir ein Herz, das einzige, das ich habe.

„Wie heißt du?“ frage ich wenig originell.

„Ist das wichtig?“ antwortet fragt sie.

Nein, das ist es eigentlich nicht. Nur, das sie da ist, ist wichtig.

„Werde ich dich wieder sehen?“

Sie schüttelt den Kopf und mir scheint es fast eine traurige Geste zu sein.

„Ich bin hier nur zu Besuch“, sagt sie.

Ich nicke.

Und dann ist sie fort und ich stehe da, unter mir der Beton und in mir die feste Absicht ums Verrecken keine Kleinanzeige aufzugeben.

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