Zeit |
Zeit. Was bedeutete dieses Wort: Zeit? Zeit. Zeit. Zeit. Er meinte sich zu erinnern, dass sie immer weiter voranschritt, war sich dessen aber nicht sicher. Nicht, weil er es nicht wusste, sondern weil es so unendlich schwer war diese lähmende, klebrige Masse zu durchstoßen, unter der so etwas ähnliches er lebte, die ihn wie eine schwere Decke begrub, ihm das Atmen schwer machte, ihn daran hinderte zu seinen Gedanken vorzustoßen, sie zu ergreifen und zu ergründen. Zeit. Zeit. Eine klebrige, zähe Masse, unbegreifbar und doch omnipräsent. Woher kannte er dieses Wort: omnipräsent? Und warum kam es ihm gerade jetzt in den Sinn? Er konnte sich nicht erinnern, vermochte seine Gedanken nicht zu fixieren und zu ordnen. Immer wieder zog ihn dieses zähe Grau der Zeit zurück in die Tiefe des Vergessens. Wie hieß das Wort, über das er nachdenken wollte? Er hatte es bereits wieder vergessen, kämpfte mit einem stummen Schrei gegen sein erneutes Einsinken, streckte den zentnerschweren Arm mit Klauenfingern hinaus ins Leben, suchte den neuen Halt außerhalb seiner eintönigen Welt. Stille und Zeit – sie waren eins geworden für ihn, düstere Geschwister der Verschwörung. Sie kannten nur einen Tagesablauf, endlos und immer wiederkehrend. „Pfffffffffffffffft … piep … pffffffffffffffffffffft … piep … pfffffffffffffffffft … piep …“ Es klang vertraut und dennoch fremd, ungewollt und dabei so persönlich an ihn gebunden. Was bedeutete das? Worin lag der Sinn? Warum spürte er immer diesen leisen, beständigen Schmerz in seinem Handrücken? Ein Gedankenfetzen tauchte für wenige Sekunden vor seinem inneren Auge auf: Ein glatt rasierter, haarloser Handrücken mit einem festen, leicht angegrauten Verband um Handgelenk und Daumen, mit dem gelben Endstück einer Kanüle, die dauerhaft in seiner Handvene verankert schien. Ein Pflaster hielt diese Kanüle in ihrer Lage und verhinderte gleichzeitig Verschmutzung und versehentliches Herauslösen. Was bedeutete das? Schon war das Bild wieder verschwunden und zurück kehrte dieses Wort, das er nicht zuzuordnen vermochte. Zeit. Zeit. Was bedeutete dieses Wort: Zeit? Zeit bestand aus … Wieder entglitt ihm der Gedanke, tauchte ganz kurz aus diesem grauen Nebel wieder auf. Er bekam ihn tatsächlich zu fassen. Zeit bestand aus … „Pfffffffffffffffft … piep … pffffffffffffffffffffft … piep … pfffffffffffffffffft … piep …“ Das war es wohl, seit Ewigkeiten ein karger zusammenhängender Gedanke, zu dem er sogar noch eine weitere Wahrnehmung einordnen konnte. Immer wieder zupfte und hantierte eine unbekannte, gesichtslose Person, ohne jeden Geruch, mit einer leisen Stimme und kalten Händen an diesem gelben Kanülenende herum, was ihm deutlich spürbare Schmerzen bereitete. War das endlich vorüber, tat sie noch etwas anderes, aber … aber er konnte sich nicht erinnern, was das war. Ganz langsam formte sich in seiner grauen, zähklebrigen Welt ein Handlungsablauf. Zeit bestand aus: „Pfffffffffffffffft … piep … pffffffffffffffffffffft … piep … pfffffffffffffffffft … piep …“ und eben dieser Kanüle und dieser Person, die an seinem Handrücken herumwerkelte. Ein Schlauch … da war auch noch ein Schlauch, ein durchsichtiger dünner Schlauch mit etwas Rotem in der Mitte … und noch etwas am anderen Ende, das so weit entfernt war, dass es sich seinem Blick fast völlig entzog. Zeit. Was bedeutete dieses Wort? „Pfffffffffffffffft … piep … pffffffffffffffffffffft … piep … pfffffffffffffffffft … piep …“ Warum wollte er das wissen? Was bedeutete Zeit? Was war Zeit? War Zeit etwas anderes als leichter Schmerz im Handrücken, ein wasserklarer, dünner Schlauch mit etwas Rotem in der Mitte und einer zäh fließenden Masse aus Grau, die ihm das Atmen schwer machte und seine Gedanken lähmte? Zeit hatte jegliche Bedeutung für ihn verloren, ohne dass er es wusste und verstehen konnte. Dazu war sein Verstand zu tief eingetaucht in diese Monotonie seines Lebens. Da war etwas, auf einem Kissen liegend, mal zur Seite geneigt, mal scheinbar völlig bewegungslos, etwas Schweres, das scheinbar Teil von etwas Ganzem war. Für einen Lidschlag erinnerte er sich an seinen Kopf und damit eröffnete sich für wenige Sekunden eine neue Frage. Wenn ich einen Kopf habe, besitze ich dann auch noch einen Körper? Ein Handrücken war zweifellos vorhanden, denn dort spürte er Tag und Nacht diesen drückenden, leisen Schmerz der Kanüle. Gab es irgendeine Verbindung zwischen diesem Handrücken und diesem … er hatte das Wort schon wieder vergessen, konnte sich aber mit Mühe noch daran erinnern, dass dies die Quelle für diese winzigen Bruchstücke flatterhafter Gedanken und Bilder war. Doch, da war noch etwas, etwas sehr Schweres, nahezu Bewegungsloses, tonnenschwer und schmerzhaft, besonders in der Mitte, auf der Unterseite. Manchmal spürte er zudem noch anderes, das irgendwie zu ihm zu gehören schien, ohne dass er es gedanklich erfassen konnte. Vielleicht wäre es möglich gewesen es durch Anschauen in sein Bewusstsein zu bringen, sich daran zu erinnern, welche Bedeutung dem zuzuordnen war. Doch wenn er auch nur versuchte dieses lange Etwas neben sich zu bewegen, entglitt ihm sofort wieder diese Wahrnehmung und tauchte tief ein in dieses zähe, stumpfe Grau, das ihn umgab. Plötzlich verstand er es, war es glasklar wieder da. Er lag auf dem Rücken, der schmerzte in seinen Lendenwirbeln und allen Muskeln, und neben ihm unter der Decke lag ein Arm, auf dem Kissen ein Kopf, mit Haaren und einem Gehirn, - und dann waren da noch zwei Beine, und noch ein Arm, der mit dem Handrücken und der Kanüle. „Pfffffffffffffffft … piep … pffffffffffffffffffffft … piep … pfffffffffffffffffft … piep …“ Wie lange mochte er schon so liegen. Es schien ihm Jahrhunderte her, dass er sich bewegt hatte. Konnte er sich überhaupt bewegen? Das war seltsam. Zwar war sein linker Arm unbestreitbar nicht innerhalb seiner Sicht, genauso wie seine Beine, aber er vermochte sie sich vorzustellen und spürte ganz deutlich, dass sie sich nicht bewegten, so sehr er sich auch darauf konzentrierte und anstrengte dieses Ziel zu erreichen. Festliegend, wie betoniert lag er auf dem Rücken. „Pfffffffffffffffft … piep … piep … piep pffffffffffffffffffffft … piep … piep … piep pfffffffffffffffffft … piep … piep … piep …“ Schmerzen, unaussprechlich unaushaltbare Schmerzen, sie quälten ihn nicht, aber für einen Herzschlag lang erinnerte er sich. Da waren viele Menschen in weißen Kitteln um ihn herum, alle hektisch betriebsam. Sie sprachen ihn an, aber so seltsam leise, das er sie nicht verstehen konnte, kaum ihre Stimmen hörte. Er erinnerte sich aber an seine Angst. „Pfffffffffffffffft … piep … piep … piep pffffffffffffffffffffft … piep … piep … piep pfffffffffffffffffft … piep … piep … piep …“ Wie lange war das her? Ein Jahr … zwei Jahre … zehn Jahre … hundert Jahre … Ewigkeiten? Wieder schloss sich diese graue, zähflüssige Welt um ihn, begrub alle Gedanken und Wahrnehmungen. Zeit. Was bedeutete dieses Wort: Zeit? Zeit. Zeit. Zeit. Sie war völlig bedeutungslos für ihn geworden. Hannelore … Wer war Hannelore? Warum verband er mit diesem Namen so ein warmes, wohltuendes Gefühl? Kevin … Noch ein Name ohne jede Bedeutung zuerst ... aber mit einem erwachenden Gefühl, ähnlich und doch ganz anders. Es war kein Gedanke, mehr ein Wunsch, eine Ahnung davon dieses Grau zu verlassen, ins Licht zurückzukehren. Denn da war etwas, was leise mit ihm flüsterte, was lieblich klang, wie eine ferne Erinnerung an Musik, eine Einladung, eine Zukunft, eine Hoffnung, ein Neubeginn und Ende zugleich. Wenn er sich ganz direkt, mit aller Kraft darauf konzentrierte, dann half ihm das seine Gedanken ein winziges Stück mehr in Klarheit einzutauchen, sie zu fassen und festzuhalten. „Pfffffffffffffffft … piep … piep … piep pffffffffffffffffffffft … piep … piep … piep pfffffffffffffffffft … piep … piep … piep …“ Eine Hand legte sich kühl auf seine Stirn, glitt scheinbar schwerelos an seine Schläfe. Der Daumen zeichnete die Augenbraue nach, während die Finger sanft eine Haarsträhne zurückstrichen. Mama. Er erkannte sie ohne die schweren Augen öffnen zu müssen. So hatte sie es immer gemacht, wenn er Kummer hatte oder krank war. Sie nahm ihn sanft in die Arme, strich mit einer Hand beruhigend über seinen Rücken, drei Mal vom Schulterblatt hinunter, hielt ihn dann so umfangen, ungeachtet der EKG-Kabel und der dünnen transparenten Schläuche. So etwas konnte nur sie, alles Leid, alles Schwere mit einer Umarmung auflösen, grenzenlosen Trost spenden. Warum und wieso war sie hier wo sie eigentlich nicht sein konnte? Die Frage war so bedeutungslos wie alles andere um ihn herum. Ihm wurde mit einem Mal ganz leicht, die Gräue löste sich auf, die Schwere fiel von ihm ab, lichte Helligkeit empfing ihn mit offenen Armen, aller Schmerz wich einem Lächeln. „Verzeih mir … Hannelore …“ „Pfffffffffffffffft … piep … pffffffffffffffffffffft … piep … pfffffffffffffffffft … pffffffffffffffffffffft … pffffffffffffffffffffft … pffffffffffffffffffffft … pffffffffffffffffffffft …“ Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich, eine Schwester eilte herein, an sein Bett, tastete nach dem Puls, nickte dann, seufzte kaum hörbar und lächelte ein ganz klein wenig, ehe sie den Monitor abschaltete und die Uhrzeit in sein Krankenblatt eintrug. Zu diesem Zeitpunkt war er längst angekommen. © 2008 by Hans Brakhage |
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