Die Entzauberung der Welt |
Wir haben Dezember. Ich bin verwundert darüber, dass die Monate nicht sterben, im Gegensatz zu mir. Nein, die Monate bleiben, Tage und Jahreszeiten, während sich irgendwann die Seele ausschleichen wird, wann auch immer; wohin auch immer. Auch denke ich kaum noch an die Gischt aus dem Mund meiner Eltern, jetzt, wo ich älter werde. Dieser Umstand erstaunt mich am meisten. Ist das etwas ein Zeichen von Weisheit oder bloß Abstumpfung? Vielleicht unnennbar dazwischen. Und ausgerechnet jetzt, wo Weihnachten naht, muss ich an ein Erlebnis denken von vor zwei Jahren. Wir saßen in einer Alternativkneipe im Schiller Kiez, im blöden Monat Mai, Freitag Nacht. Marek, Pierre, meine Wenigkeit und einige andere Experten, die ich schlicht vergessen habe. Marek schlägt ganz schön zu, wenn es um Bierkonsum geht, Pierre fällt nicht auf; - keine Ahnung, was der da treibt, sitzt einfach nur da und schweigt die ganze Zeit, selten erhebt er seine Stimme, hingegen bin ich der typische Gemütlichkeitstrinker. Nach einem Liter Weizen kann ich mich weg schmeißen, um unruhig zu schlafen. Das ist bei mir immer so. Ich verkläre diesen Zustand. Hat mit dem Alter zu tun. „Habt ihr schon einmal darüber nachgedacht, warum wir uns bedröhnen?“ fragte Marek. „Also warum wir überhaupt nach etwas süchtig sind...“ Darauf hätte ich gern eine Antwort gewusst. Ich hatte sehr oft nachgedacht über das Thema, doch therapeutisches Geschwafel ist mir zuwider. Schon wenn ich über Gefühle reden muss, könnte ich kotzen. Ich mag keine Gefühle, sie ärgern oder verwirren mich! Oder vielleicht ist es das: Ich mag sie sehr wohl, doch das lässt meine ständige Überreizung nicht zu. Und wenn Überreizung auf Gefühl trifft, dazu unsittliche Gedanken, dann entsteht bei mir immer ein Kurzschluss im Gehirn. So kann man nicht leben, geschweige denn lieben. Ich glaube, dass ich lieben kann, ohne zu wissen, was das ist. Wer weiß schon, was das ist? Bestimmt keine Gurus, die sich den Genitalbereich weg meditieren. Das ist keine Erleuchtung, so was ist Weltflucht. Ich bewunderte Marek. Er litt so schön an der Welt. Ich bewunderte ihn für seine Hintersinnigkeit. Ganz besonders dafür, dass er nicht so recht bestimmen konnte, was es moralisch mit ihm auf sich habe. Gleichgültig war er allerdings nicht. Genau so wenig handelte es sich bei ihm um einen dieser Sinnsuchejunkies. Er stellte bloß Fragen und fand keine Antwort. Einfach fantastisch. „Warum bedröhnen wir uns?“ fragte er nochmal, weil in der Runde nach wie vor Schweigen herrschte. Am liebsten hätte ich zu ihm geflüstert: Weil ich weder mein Leben, noch den Stress hier ertrage. Der Großstadtdschungel, er macht mir zu schaffen und für den Alltag auf dem Land bin ich einfach zu faul. Doch ich traute mich nicht. Darum hielt ich die Klappe. „Warum bedröhnst du dich denn?“ gab Pierre ihm zurück. Marek wurde still. Er konnte sehr ernsthaft sein, ohne sich dabei in bedeutungsschwangeren Etüden zu verlieren. Und dann war da wieder dieses spitzbübische Lächeln, welches ihm gelegentlich über die Wangen huschte. „Ich leide unter der Entzauberung der Welt,“ sagte er in einem fast beiläufigen Ton. Darauf setzte sich eine Diskussion in Gang, die mich schlichtweg wütend machte. Was er damit denn meine, wollten die Anderen wissen. Fantasielose Hornochsen, grummelte ich. Das ist doch wohl klar, oder? Bald ist Weihnachten. Es duftet nach Zimt. Die Händler bieten Glühwein an. Ich könnte heulen. Meine Welt hat sich entzaubert. Ja, ich muss Marek treffen. |
Kontaktadresse: Edgar Bangert -
edgar.bangert@gmx.net
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