Leseprobe aus "EIN LEHRERLEBEN - Die ersten 20 Jahre"  (Jahr 2018)

 

 

Scharlach und die Mandeln

Ziemlich zu Beginn meiner Schullaufbahn - es war Oktober der ersten Klasse – erkrankte ich plötzlich schwer. Scharlach war damals ohne Antibiotika lebensgefährlich, man konnte dabei leicht draufgehen. Ich kam ins Spital auf eine Isolierstation und konnte Besucher, hauptsächlich meine Mutter, nur mehr durch eine uns trennende Glasscheibe sehen.

Ich erinnere mich ganz genau daran, weil wir eben in der Schule die ersten paar Buchstaben in Groß- und Kleinschrift gelernt hatten, und Mutter mir die jeweils neuen Zeichen auf einem Blatt Papier an die Scheibe presste, sodass ich die Buchstaben abzeichnen und üben konnte. So wollte sie auf alle Fälle verhindern, dass ich im Stoff zurückblieb und die erste Klasse vielleicht gar wiederholen müsste.

Nach etwa sechs Wochen durfte ich das Spital sehr dünnhäutig und geschwächt verlassen. Doch das war nicht alles. Ich konnte plötzlich nicht mehr scharf sehen. Das fiel zuerst meinem Lehrer Nimmer auf, der sich meine Mutter vorlud.

Ein Besuch beim Augenarzt mit den Tafeln voller Großbuchstaben, die ich schon gelernt und daher intus hatte, ab der dritten Zeile von oben aber nicht mehr scharf sehen konnte, hatte Dramatisches zur Folge: eine Brille.

Solche Anschaffungen waren schon damals für arme Leute – meine Eltern zählten dazu – eine Katastrophe. Die Krankenkasse meines Vaters sprang helfend ein, und so wurden mir die Gläser fachgerecht angemessen. Seit meinem sechsten Lebensjahr laufe ich daher mit so einem Ding auf der Nase rum.

Nun hatte ich aber genug von Ärzten und Spitälern, dachte ich. Keine drei Wochen nachdem ich endgültig Brillenträger war, wurden von einem anderen Doktor mit einem Spiegel und einer grellen Lampe auf dem Kopf zerklüftete Rachenmandeln bei mir festgestellt.

„Die müssen raus“, meinte er zu meiner Mutter, „die könnten sonst was anrichten.“

Einige Zeit später landete ich wieder in einem Spital, lag wieder in einem Bett, wo mir ein Mann mit einem Mundschutz einen feuchten Lappen, der fürchterlich nach Benzin oder so einer giftigen Flüssigkeit stank, auf Mund und Nase drückte.

„Helmut, du musst jetzt tief einatmen und langsam von eins bis hundert zählen; das kannst du ja schon?“ Ich nickte. „Und wenn du wieder aufwachst, kannst du Eis essen, so viel du willst.“

Ich atmete tief ein, zählte ein wenig und alles um mich wurde schwarz. In den Ohren hörte ich ein dumpfes Pochen, dann war ich weg.

Als ich aufwachte durfte ich tatsächlich so viel Eis essen, wie ich wollte. Doch die Sache hatte einen Haken. Mein Hals schmerzte so arg, dass ich keinen Bissen davon hinunter gebracht hätte. So ein Schwindel!

 

Hauptschule - Bekleidungsparagraph

In dieser Zeit des Umbruchs, Neubeginns und der brisanten Erfahrungen wurde ich von der Volksschule in die Hauptschule versetzt. War das eine Umstellung!

Zu allererst nahm mich der Direktor der Schule genau unter die Lupe. Ich war Anfang September „der Neue“ und der Chef wollte sicherstellen, dass ich auch in sein eingespieltes Lehrerteam passte. Er legte mir klar, wie seine Konferenzen seit Menschengedenken abliefen, was ich an seiner Schule zu tun und zu lassen hatte, wie ich mich in Gesprächen mit Eltern zu verhalten hatte und vieles mehr.

Stutzig wurde ich als er mir ein eng bedrucktes A4-Blatt vorlegte, das den Titel „Bekleidungsvorschriften für Lehrpersonen“ trug. Man durfte dieses Blatt nicht einfach überfliegen, nein dieser Erlass des Stadtschulrates für Wien, musste nachweislich zur Kenntnis gebracht werden. Wissen Sie, was das bedeutet?

Nein? Dann will ich es gerne erklären.

Man musste den Text im Beisein des Vorgesetzten lesen und dann mit seiner Unterschrift zur Kenntnis nehmen. Das Blatt wurde dann in der Kanzlei bei den Erlässen abgelegt und ich vermute, dass auch im Berzirksschulrat oder gar noch höher eine Kopie davon heute noch existiert.

Nachdem ich alle Weisungen meines neuen Direktors teils auch nachweislich zur Kenntnis genommen hatte, konnte ich mich meiner eigentlichen Aufgabe zuwenden und mich mit den inneren Abläufen des Hauses vertraut machen.

Die Schule wurde nur von Knaben besucht, der Lehrkörper bestand nur aus Männern, dementsprechend hart ging es hier manchmal zu.

Ich war wie schon einmal vor ein paar Jahren der jüngste Lehrer im Team, dementsprechend wurde ich mit Klassen und Fächern eingedeckt, die sonst keiner unterrichten wollte. Das ist aber überall so: den Letzten beißen die Hunde!

Ein einziger Kollege, Franz K., nahm sich meiner an, als er sah, mit welchen Schwierigkeiten ich zu kämpfen hatte. Und ihm allein war es zu verdanken, dass ich den Lehrberuf an dieser Schule nicht schnell an den Nagel hängte.

Anhand des Stundenplans, der sich oft änderte, sah mein Kollege, dass ich für eine fürchterliche 3. Klasse eingeteilt war – seine Klasse. Und das in zwei Stunden. Er nahm mich also zur Seite:

„Helmut, wenn du das erste Mal in die 3b kommst, dann gebe ich dir einen guten Rat. Die Jungs wissen, dass da der Neue kommt und werden versuchen, dich fertig zu machen. Da bist du in 5 Minuten unten durch. Aber das möchte ich vermeiden.“

„Und wie soll ich das anstellen?“

„Ganz einfach. Du gehst gleich nach dem Läuten in die Klasse. Es wird ein fürchterliches Chaos herrschen, sie werden dich nicht einmal zur Kenntnis nehmen. So sind die mal. Wie wilde Tiere. Aber lass dich nicht beirren. Links vorne an der Ecke sollte ein großer Blonder sitzen oder stehen. Auf den gehst du zielstrebig zu und haust ihm ordentlich eine rein.“

„Franz, das kann ich nicht machen. Da verliere ich meinen Posten.“

„Du hast keine Wahl, das sind jetzt schon kleine Verbrecher, die nur die Sprache der Gewalt verstehen. Und der Blonde ist ihr Anführer. Nur wenn du den knackst, dann hast du sie für immer in der Hand.“

Das waren ja schöne Aussichten! Warum hatte ich davon während meiner fünfjährigen Ausbildung nichts gehört?

Die Stunde rückte unerbittlich näher. Dritte Stunde Mathe in der 3b. Kaum hatte die Glocke die Pause ausgeläutet, betrat ich die Klasse, die einem Narrenturm glich. Wie Franz es vorausgesagt hatte, nahm mich niemand zur Kenntnis, es wurde gegrölt, gelaufen und hinten prügelten sich zwei Knaben ganz ordentlich.

Ich suchte den blonden Longinus, der mir den Rücken zuwandte und verkehrt herum auf dem Tisch saß. Schon war ich bei ihm und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, bevor er noch wusste, wie ihm eigentlich geschah.

Blankes Entsetzen in den Gesichtern jener, die die Szene mitgekriegt hatten.

Langsam ging ich zum Lehrertisch, legte mit gekonntem Schwung meine Tasche dort ab, auch wenn ich mir fast in die Hose gepisst hätte. Es war totenstill im Raum, jeder schlich zu seinem angestammten Platz und nahm Aufstellung bei seinem Sessel.

Wahnsinn, dass einer so schnell ihren Capo ausgemacht und ihn für nichts und wieder nichts ordentlich die Fresse poliert hatte. Das war ihnen unbegreiflich. Mir auch.

Es bedurfte nur eines kleines Zeichens mit meiner linken Hand, alle setzten sich still hin und ich konnte mit dem Unterricht beginnen.

Ich bin heute noch meinem damaligen Kollegen Franz – er ist schon viele Jahre tot - für seinen lebensrettenden Rat dankbar. Auch hatte ich seitdem den Ruf des strengen Allwissenden, der sich noch über Jahre hin von Klasse zu Klasse verbreitete und mir vorauseilte.

Natürlich kamen zukünftige Klassen rasch dahinter, dass der Mathelehrer gar nicht so arg war, wie befürchtet, aber ich kann sagen, ich hatte wirklich zeitlebens ein gutes Verhältnis zu den Kindern bei gleichzeitigem Respekt. Denn ohne Regeln und Disziplin kann die Führung der heranwachsenden Generation nicht klappen. Die heutigen Zustände an den Schulen beweisen das nur zu deutlich.

 

zurück